Robert Silverberg
Schatten über den Sternen
1. Kapitel
Baird Ewing erwachte. Sein ganzer Körper war von Kälte erstarrt, die nur langsam aus ihm wich. Kopf und Schultern waren jetzt von der Starre befreit, der Rest seines Körpers tauchte stufenweise daraus hervor. Er bewegte sich, und das feingewordene Schaumgespinst, das ihn während der Reise durch den Raum umgeben hatte, raschelte leicht, als er sich rührte.
Er streckte eine Hand aus und ließ sie auf den Hebel fallen, der zwölf Zentimeter von seinem Handgelenk entfernt war. Ein flüssiger Strom schoß aus den Sprühdüsen über ihm und zerschmolz das Gewebe, das ihn fesselte. Die Kälte wich aus seinen Beinen. Steif erhob er sich.
Er hatte, dem Kalender über seiner Schlafstätte zufolge, elf Monate, vierzehn Tage und sechs Stunden geschlafen.
Ewing berührte einen hervortretenden Knopf, und ein Teil der inneren Hülle des Schiffes glitt zur Seite und gab eine matt glühende Sichtplatte frei. Ein Planet hing zentral in den grünen Tiefen der Platte — ein Planet, der selbst grün schimmerte, mit weiten Meeren, die seine Kontinente umschlossen.
Die Erde.
Ewing wußte, wie seine nächste Aufgabe aussah. Das Blut hatte begonnen, wieder durch seine aufgetauten Glieder zu zirkulieren. Er ging zu dem subätherischen Generator an der gegenüberliegenden Wand und drehte die Kontaktscheibe.
„Hier Baird Ewing“, sagte er. „Ich bin nach erfolgreich verlaufenem Flug in eine Bahn um die Erde eingebogen und werde in Kürze landen. Weitere Berichte folgen.“
Er unterbrach die Verbindung. Er wußte, daß in diesem Augenblick seine Worte auf der subätherischen Trägerwelle durch die Galaxis zu seiner Heimatwelt rasten. Fünfzehn Tage würden vergehen, bevor sie Corwin erreichten.
Ewing hatte begehrt, während der langen Monate seines einsamen Fluges wach zu bleiben. Die Vorstellung, fast ein Jahr schlafend zu verbringen, dünkte ihn entsetzlich — die ganze Zeit verschwendet!
Doch sie hatten sich unerbittlich gezeigt. „Sie müssen sechzehn Parsec in einem Einmannraumschiff zurücklegen“, hatte man ihm entgegengehalten. „Niemand, der das in wachem Zustand durchmacht, kann bei Verstand bleiben. Und wir brauchen Ihren Verstand.“
Er hatte versucht, zu protestieren. Es hatte nichts genutzt. Das Volk Corwins schickte ihn unter großen Kosten zur Erde, damit er eine Aufgabe von lebenswichtiger Bedeutung erfüllte; wenn es nicht völlig sicher sein konnte, daß er gesund anlangte, tat es besser daran, einen anderen zu senden. Zögernd gab Ewing nach. Man legte ihn in die Nährlösung und zeigte ihm, wie er die Fußhebel zu bedienen hatte, die den Kälteschlaf hervorriefen, und die Handhebel, die ihn befreien würden, wenn die Zeit gekommen war. Sie verschlossen sein Schiff hermetisch und schossen es in die Dunkelheit, ein einsames Floß auf endloser See, ein Fahrzeug von Sarggröße, das für einen Passagier gebaut war.
Wenigstens zehn Minuten vergingen, ehe seine physiologischen Funktionen wieder vollständig hergestellt waren. Er starrte befremdet auf das Weiße seiner Fingernägel und musterte im Spiegel die seltsamen weichen Stoppeln, die auf seinem Gesicht gesprossen waren. Er wirkte wie ein Gerippe; seine Wangen waren eingefallen, die Haut spannte sich straff über den hervorspringenden Knochen seines Gesichts. Selbst sein Haar schien gebleicht zu sein; an dem Tag des Jahres 3805, an dem er Corwin auf seiner Mission zur Erde verließ, hatte es eine tiefe, goldbraune Tönung besessen, jetzt aber wies es eine schmutzigdunkle, unbestimmbare Farbe auf. Ewing war ein großgewachsener Mann, eher schlank als stämmig, mit einem grimmigen Gesichtsausdruck.
Sein Magen vermittelte ein leeres Empfinden. Seine Waden waren spindeldürr. Er fühlte sich bar jeder Lebenskraft.
Aber er hatte eine Mission zu vollbringen.
An den subätherischen Generator schloß sich ein Intersystem-Kommunikator an. Er schaltete ihn ein und starrte auf den blassen Ball, der in dem Schirm auf der fernen Wand die Erde darstellte. Das Knattern der Statik belohnte ihn.
Nahezu tausend Jahre waren vergangen, seit die Kolonie gegründet worden war, und fast fünfhundert, seit das Volk Corwins zum letztenmal mit der Erde verkehrt hatte. Und Sprachen pflegen sich in fünf Jahrhunderten zu verändern.
Eine Stimme sagte: „Erdstation Haupt Zwei. Wer ruft? Melden Sie sich. Melden Sie sich bitte.“
Ewing antwortete: „Hier Einmannschiff aus der Freien Welt Corwin. Ich befinde mich in einer stabilisierten Bahn fünfzigtausend Kilometer über Bodenhöhe der Erde. Erbitte Landeerlaubnis.“
„Welche Freie Welt, sagten Sie?“
„Corwin. Epsilon Ursae Majoris XII. Eine ehemalige terrestrische Kolonie.“
„Corwin, Corwin. Oh. Ich denke, Sie können herunterkommen. Landekoordinaten folgen.“
Ewing notierte die genannten Ziffern sorgfältig, wiederholte sie zur Bestätigung, dankte dem Mann auf der Erde und schaltete ab. Er integrierte die Zahlen und fütterte sie in die Kalkulatoren des Schiffes.
Seine Kehle war trocken. Irgend etwas an dem Tonfall des Erdenmenschen störte ihn. Der Mann hatte zu sorglos, zu unbekümmert geschienen.
Vielleicht habe ich zuviel erwartet, dachte Ewing. Er führt lediglich eine stumpfsinnige Aufgabe durch. Ich kann nicht voraussetzen, daß Übermenschen routinemäßige Funkarbeit erledigen.
Nichtsdestoweniger war es ein ernüchternder Anfang. Ewing erkannte, daß er eine höchlich idealisierte Vorstellung von einem Erdenmenschen als einem weisen und physisch überragenden Superman in jeder Beziehung besaß. Es würde enttäuschend sein, feststellen zu müssen, daß die von Fabeln umrankten Bewohner der Mutterwelt auch nur gewöhnliche menschliche Wesen waren.
Ewing schnallte sich für den Sturz durch die atmosphärische Hülle der Erde an und schob den Hebel vor, der den Autopiloten kontrollierte. Die letzte Etappe seiner Reise hatte begonnen. Binnen einer Stunde würde er auf dem Boden der Erde stehen.
Ich hoffe, sie werden uns helfen können, dachte er. Vor seinem inneren Auge stand das Bild gesichtsloser Horden barbarischer Klodni, die von der Andromeda her gegen die Galaxis vorstießen und Welt auf Welt in ihrem ungezügelten Drang nach innen, zum Herzen der Zivilisation, verschlangen.
Vier Welten waren den Fremden bereits zum Opfer gefallen, seit sie ihren Eroberungszug begonnen hatten. Innerhalb der nächsten zehn Jahre mußten sie Corwin erreichen.
Die Städte zerstört, die Frauen und Kinder in die Sklaverei verschleppt, die schimmernde Spitze des Weltgebäudes eine verkohlte Ruine, die fruchtbaren Felder von der Verbrannten-Erde-Taktik der Klodni geschwärzt.
Ewing schauderte, während sein winziges Schiff sich in Spiralen der Erde näherte und in den dichter werdenden Schichten der Atmosphäre hin und her ruckte. Die Erde wird uns helfen, sagte er sich beruhigend. Die Erde wird ihre Kolonien vor den Eroberern retten, Sie wird um schützen.
Ein Abgrund lag zwischen der Erde und Corwin, ein Abgrund von fünfhundert Jahren des Schweigens. Aber jetzt fiel ein Schatten über die Sterne, eine drohende Faust hob sich. Vier Welten waren gefallen. Ihre Zahl würde steigen, wenn sich die Erde nicht aus ihrem Jahrhunderte währenden Schlummer aufraffte und die Angreifer zermalmte.
Ewing fühlte, wie Blutgefäße unter der steigenden Gegenbeschleunigung platzten. Er umklammerte die Handgriffe und schrie, um den Druck zu lösen, der auf seinen Trommelfellen lastete, aber es gab keinen Weg, um den Druck in seinem Innern zu lösen. Das Donnern der Düsen dröhnte durch das Innere des Schiffes, und der grüne Planet wuchs in dem klaren Kunststoff des Sichtschirmes zu erschreckender Größe.