Zwei Tage später, am Ersttag, dem 10., war er erwacht, und die Folter hatte begonnen. Ersttag, Zweittag, Drittag — und jetzt war Vierttag. Die Tortur hatte nicht länger als zwei Tage gedauert. Der Fremde hatte ihn entweder am Zweit- oder am Drittag gerettet, und er hatte bis jetzt geschlafen.
Noch etwas anderes fiel ihm ein: Seine Verabredung mit Myreck lautete auf Viertabend. Heute abend.
Das Telephon läutete.
Ewing überlegte einen Moment, ob er sich melden sollte; es läutete erneut, beharrlicher, und er schaltete ein. Die robotische Stimme sagte: „Sie werden verlangt, Mr. Ewing.“
Augenblicke später erhellte sich der Zimmerschirm, und Ewing sah das kahlköpfige Bild des Gelehrten Myreck, das ihn besorgt anstarrte.
„Habe ich Sie gestört?“ fragte Myreck.
„Keineswegs“, erwiderte Ewing. „Ich dachte gerade an Sie. Wir hatten eine Verabredung für heute abend, nicht wahr?“
„Ah — ja. Aber ich empfing soeben einen anonymen Anruf, der mir mitteilte, Sie hätten — ein etwas unglückliches Erlebnis gehabt. Ich fragte mich, ob ich Ihnen bei der Linderung Ihrer Schmerzen von Nutzen sein könnte.“
Ewing erinnerte sich an die wunderbare Behandlung, die Myreck ihm hatte zuteil werden lassen. Er zog außerdem die Tatsache in Betracht, daß das Hotel, an dem er sich befand, Firnik gehörte, und daß der Sirier sich bald von seiner Betäubung erholen und nach ihm suchen würde. Es war unklug, noch länger in dem Hotel zu bleiben.
Er lächelte. „Ich wäre Ihnen sehr verbunden. Sie sagten, Sie würden mich abholen lassen, nicht wahr?“
„Ja. Wir werden in einigen Minuten dort sein.“
9. Kapitel
Es dauerte nur elf Minuten von dem Augenblick an, in dem Ewing die Verbindung unterbrach, bis Myreck aus dem Vorraum des Hotels anrief. Ewing nahm den Lift an der Hinterseite und bewegte sich vorsichtig durch die große Halle auf die Energitronzelle zu, die er mit dem Gelehrten als Treffpunkt vereinbart hatte.
Eine Gruppe von Irdischen erwartete ihn. Er erkannte Myreck und außerdem den Einbeinigen, den er am ersten Morgen im Zentralgebäude bemerkt hatte. Die anderen beiden waren nicht weniger groteske Erscheinungen. In dem Verlangen nach Individualität hatten sie sich dem Messer des Chirurgen hingegeben. Dem einen saßen in einer Furche, die durch die Mitte seiner Haare geschnitten war, Smaragde und Diamanten einem Hahnenkamm gleich auf dem Schädel; die eingelassenen Juwelen liefen über seine Stirn und endeten in einem kleinen Edelstein auf dem Nasenrücken. Der Vierte hatte keine Lippen, und parallel angeordnete blaue Narben bedeckten seine Wangen.
Myreck sagte: „Der Wagen steht draußen.“
Sie wandten sich südwärts, von dem Raumhafen weg, und glitten fast acht Meilen über eine breite Highway, um dann scharf nach Osten abzubiegen und durch eine Gegend zu fahren, die einen vorstädtischen Eindruck machte. Schließlich hielten sie, und Ewing war überrascht, nichts als ein leeres Grundstück vor sich zu sehen.
Verwirrt stieg er aus. Myreck starrte vorsichtig in alle Richtungen, zog dann einen Schlüssel aus der Tasche, der aus einem leuchtendgelben Metall gefertigt war, und näherte sich dem leeren Platz, wobei er sagte: „Willkommen in der Akademie für Abstrakte Wissenschaften.“
„Wo?“
Myreck zeigte auf das Grundstück. „Hier natürlich.“
Ewing zwinkerte. Irgendetwas stimmte nicht mit der Luft über dem Platz. Sie besaß eine seltsame blaßrosa Färbung; sie schien zu flimmern, als stiegen Hitzewellen von dem sorgfältig gepflegten Rasen auf.
Myreck hielt den Schlüssel vor sich, trat auf den Platz und tastete kurz umher, als suchte er nach einem unsichtbaren Schlüsselloch. Der Schlüssel verschwand zu drei Vierteln seiner Länge in der Luft.
Ein Gebäude erschien.
Es hatte eine rosarote Kuppel und ähnelte insofern den anderen Häusern in seiner Umgebung, aber eine sonderbare Unstetigkeit lagerte über ihm. Es schien aus einem Traumgespinst gefertigt zu sein. Der lippenlose Irdische ergriff seinen Arm und schob ihn vorwärts, in das Haus. Die Straße draußen verschwand.
„Wie ist das möglich?“ wollte Ewing wissen.
Myreck lächelte. „Das Haus ist gegenüber dem Rest der Straße um drei Mikrosekunden phasenverschoben. Es existiert stets den Bruchteil eines Augenblicks in der absoluten Vergangenheit, nicht genug, um ernsthafte temporale Störungen hervorzurufen, aber ausreichend, um es vor unseren vielen Gegnern zu verbergen.“
Ewing starrte Myreck an: „Sie beherrschen die Zeitkontrolle?“
Der Irdische nickte. „Es ist die am wenigsten abstrakte unserer Wissenschaften. Ein notwendiger Schutz.“
Ewing war fassungslos. Mit neu erwachtem Respekt auf den schmächtigen Irdischen blickend, dachte er: Das ist unglaublich! Blackmuirs Gleichungen hatten vor mehr als einem Jahrtausend die Zeitkontrolle theoretisch für möglich erklärt. Aber Corwin hatte wenig Gelegenheit zu temporalen Forschungen gehabt. Und die Forschungsergebnisse, zu denen man gelangt war, schienen darauf hinzudeuten, daß Blackmuirs Angaben entweder inkorrekt oder technologisch nicht zu verwirklichen waren.
„Das muß enorme Energien erfordern“, meinte Ewing.
„Im Gegenteil. Der ganze Vorgang benötigt nicht mehr als tausend Watt, und unser Generator liefert Fünzehn-Ampere-Strom. Aber Sie müssen erschöpft sein. Kommen Sie.“
Ewing wurde in einen behaglich eingerichteten Salon geführt, dessen Wände Buchspulen und Musikplatten säumten. Pläne wirbelten in seinem Kopf. Wenn diese Irdischen die Zeitkontrolle kennen, dachte er, und ich sie dazu bewegen kann, daß sie uns helfen —
Myreck fragte: „Wollen Sie sich nicht setzen?“
Ewing ließ sich in dem Laxosessel nieder. Der Irdische stellte ein Getränk vor ihm hin und schob eine Musikplatte in den Spieler. Lebhafte Musik erfüllte den Raum. Ihr Klang gefiel ihm.
„Was ist das für eine Musik?“
„Beethoven“, antwortete Myreck. „Einer der Alten. Möchten Sie, daß ich Sie lockere?“
„Bitte.“
Wieder fühlte Ewing Myrecks Hände an seiner Schädelbasis; er spannte sich und wartete auf den Zugriff der Finger, aber er kam diesmal nicht. Myreck strich lediglich einige Augenblicke über sein Genick, ohne ihn von den Schmerzen zu befreien. Seine Hände sondierten die Ränder seines Nackens, hoben sich, stießen scharf in das Fleisch. Einen kurzen Moment lang spürte Ewing, wie jedes Gefühl seinen Körper verließ; dann kehrte das physische Bewußtsein zurück, aber ohne Schmerzen.
Er lehnte sich zurück und genoß das Empfinden. Die Irdischen traten jetzt herein — elf oder zwölf an der Zahl, scheue kleine Männer mit sonderbaren künstlichen Verunstaltungen. Myreck erklärte: „Der Name ‚Akademie’ gebührt uns nur im ältesten Sinne des Wortes. Wir kennen hier keinen Unterschied zwischen Lehrer und Schüler. Jeder lernt von jedem.“
„Ich verstehe. Und wer hat das Zeitkontrollsystem entwickelt?“
„Oh — keiner von uns. Powlis entdeckte es vor einem Jahrhundert.“
Ein schmaler Irdischer mit chirurgisch verbreiterten Schultern meldete sich: „Trifft es zu, daß Ihre Welt von fremden Wesen aus einer fernen Galaxis angegriffen wird?“
„Ja. Wir erwarten ihren Angriff in zehn Jahren.“
„Und werden Sie ihn abschlagen können?“
Ewing hob die Schultern. „Wir werden es versuchen, aber wir haben nicht viel Hoffnung.“
Traurig warf Myreck ein: „Wir hatten uns gefragt, ob es uns möglich sein würde, die Erde zu verlassen und zu Ihrer Welt auszuwandern. Aber wenn Ihnen Vernichtung droht —“
„Nach Corwin auswandern? Weshalb?“
„Die Sirier werden hier bald die Macht an sich reißen. Sie werden uns für sich arbeiten lassen oder uns töten. Wir sind solange sicher, wie wir in diesem Gebäude bleiben — aber einmal müssen wir es verlassen.“