Mendel nickte.
»Na also, vor drei Wochen ist so ein Bursche hereingekommen. Ein langer Schotte. Mit Pinke-pinke. Einen Stock hat er getragen. Er hat das Depo bezahlt, den Wagen mitgenommen, und weder ihn noch den Wagen habe ich wiedergesehen. Einfach Diebstahl.«
»Warum haben Sie es nicht bei der Polizei gemeldet?«
Scarr antwortete nicht und trank wieder aus seinem Glas. Er sah Mendel traurig an.
»Dagegen hätten viele Gründe gesprochen, Chef.«
»Soll das heißen, daß Sie ihn selbst gestohlen hatten ?«
Scarr machte ein erschrockenes Gesicht. »Ich habe inzwischen unangenehme Gerüchte über die Leute, von denen ich den Wagen gekauft habe, gehört. Mehr will ich nicht sagen«, fügte er fromm hinzu.
»Wie Sie den Wagen hergeliehen haben, hat er doch Formulare ausfüllen müssen, Versicherung und so weiter, nicht wahr? Wo sind die?«
»Falsch, alles falsch. Er hat mir eine Adresse in Ealing angegeben. Ich bin hin, aber sie hat nicht existiert. Bestimmt war der Name auch geflunkert.«
Mendel drehte das Geld in der Tasche zu einer Rolle und reichte es Scarr über den Tisch. Scarr entfaltete die Scheine, zählte sie ganz bewußt vor den Blicken aller, die hinsehen wollten.
»Ich weiß, wo ich Sie finde«, sagte Mendel, »und ich weiß ein paar Sachen über Sie. Wenn das ein Haufen Humbug ist, was Sie mir da verhökert haben, dann werde ich Ihnen Ihren verdammten Hals brechen.«
Es regnete wieder, und Smiley bedauerte, daß er keinen Hut mithatte. Er überquerte die Straße, kam in die Seitengasse, in der Scarrs Unternehmen lag, und ging auf den Wagen zu. In der Gasse war kein Mensch zu sehen, und es war merkwürdig ruhig. Zweihundert Meter weiter unten in der Straße schickte das kleine und nette Allgemeine Krankenhaus von Battersea durch seine vorhanglosen Fenster viele Strahlenbündel in die Nacht hinaus. Der Gehsteig war sehr naß, und das Echo seiner Schritte knirschend und laut.
Er kam vor die erste der beiden Baracken, die an Scarrs Hof lagen. Dort war ein Wagen mit brennenden Standlichtern abgestellt. Neugierig ging Smiley von der Gasse weg und darauf zu. Es war eine alte MG-Limousine, wahrscheinlich grün oder braun, wie es vor dem Krieg so beliebt war. Das Nummernschild war fast nicht beleuchtet und völlig verschmutzt. Er bückte sich, um es zu entziffern, wobei er dem Zeichen mit dem Zeigefinger folgte: TRX 0891. Natürlich, das war eine der Nummern, die er sich heute vormittag aufgeschrieben hatte.
Er hörte hinter sich Schritte, drehte sich halb um und richtete sich auf. Er hatte gerade begonnen, seinen Arm zu heben, als der Schlag fiel.
Es war ein fürchterlicher Schlag - er schien seinen Schädel in zwei Teile zu spalten. Als er fiel, konnte er das warme Blut fühlen, das in Strömen über sein linkes Ohr rann. »O Gott, nicht noch einmal«, dachte Smiley. Aber das übrige fühlte er kaum - nur eine Vision seines eigenen Körpers, ganz weit weg, der langsam wie Gestein zerbröckelt wurde. Zerbröckelt und zu Fragmenten zertrümmert, und dann war nichts mehr. Nichts als die Wärme seines eigenen Blutes, das über sein Gesicht in die Schlacken rann, und in weiter Ferne das Pochen des Steinbrechers. Aber nicht hier. Weit weg.
Mr. Scarrs Geschichte
Mendel sah ihn an und fragte sich, ob er tot wäre. Er leerte die Taschen seines Mantels und legte ihn behutsam über Smileys Schultern. Und dann rannte er wie ein Wahnsinniger zum Spital, stürzte durch die Drehtür der Ambulanz in das hellerleuchtete Innere des Hauses, das Tag und Nacht Betrieb hatte. Ein junger farbiger Doktor machte Dienst. Mendel zeigte ihm seine Karte, schrie ihm irgend etwas zu, nahm ihn am Arm und versuchte ihn hinauszuführen. Der Doktor lächelte geduldig, schüttelte den Kopf und telefonierte um einen Ambulanzwagen.
Mendel lief die Straße zurück und wartete. Nach einigen Minuten kam der Rettungswagen, und geschickte Männer hoben Smiley auf und brachten ihn weg.
»Sein Begräbnis«, dachte Mendel, »das werde ich dieses Schwein blutig bezahlen lassen.«
Er blieb einen Augenblick stehen und starrte auf den feuchten Fleck von Dreck und Schlacken, wo Smiley gestürzt war. Das matte rote Leuchten der Deckenlichter des Wagens zeigte ihm nichts. Der Boden war von den Schuhen der Sanitäter hoffnungslos zertreten worden, auch von einigen Bewohnern der Baracken, die wie schattenhafte Geier gekommen und gegangen waren. Sie hatten Scherereien nicht gerne.
»Verdammtes Schwein«, zischte Mendel und ging langsam zum Gasthaus zurück.
Das Gastzimmer füllte sich allmählich. Scarr bestellte gerade noch einen. Mendel packte ihn am Arm. Scarr drehte sich um und sagte: »Hallo, Kumpel, wieder da? Nehmen Sie auch von dem Zeug, das Tantchen umgebracht hat.«
»Halt's Maul«, sagte Mendel. »Ich muß noch einmal mit dir reden. Komm raus!«
Mr. Scarr schüttelte den Kopf und sog mitfühlend an seinen Zähnen.
»Kann ich nicht, Kumpel, kann ich nicht. Gesellschaft.« Er deutete mit dem Kopf auf eine achtzehnjährige Blondine mit fast weiß angestrichenen Lippen und einem unwahrscheinlichen Busen, die völlig bewegungslos an einem Ecktisch saß. Ihre getuschten Augen hatten einen dauernd erstaunten Ausdruck.
»Hör zu«, flüsterte Mendel, »in genau zwei Sekunden reiß ich dir die Ohren ab, du verlogener Scheißkerl.«
Scarr übergab seine Getränke dem Wirt zur Obhut und ging langsam und würdevoll hinaus. Das Mädchen sah er nicht an.
Mendel führte ihn durch die Gasse zu den Barakken. Das Standlicht von Smileys Wagen, der achtzig Meter weiter auf der Straße stand, schien ihnen entgegen.
Sie gingen in den Hof. Der MG war noch immer da. Mendel hielt Scarr fest am Arm, bereit, ihm, wenn nötig, den Unterarm nach hinten und nach oben zu drehen und ihm das Schultergelenk zu brechen oder auszukugeln.
»Na also«, rief Scarr mit offensichtlicher Freude, »da ist er ja wieder an den Busen seiner Ahnen zurückgekehrt.«
Gestohlen, nicht wahr?« sagte Mendel. »Gestohlen von einem großen Schotten mit einem Spazierstock und einer Adresse in Ealing. Nett von ihm, ihn zurückzubringen, nicht wahr? Eine freundliche Geste nach so langer Zeit. Du hast deinen verdammten Markt falsch eingeschätzt, Scarr.« Mendel bebte vor Wut. »Und warum brennen die Standlichter? Mach schon die Tür auf.«
Scarr drehte sich in der Dunkelheit zu Mendel um, und seine freie Hand tappte an seinen Taschen nach den Schlüsseln. Er zog ein Bund von drei oder vier Stück heraus, ging sie mit den Fingern durch und sperrte endlich die Wagentür auf. Mendel stieg ein, fand den Schalter für die Innenbeleuchtung und machte Licht. Er begann den Wagen methodisch zu durchsuchen. Scarr stand draußen und wartete.
Er arbeitete schnell, aber gewissenhaft. Handschuhfach, Sitze, Boden, Platz vor dem Hinterfenster: nichts. Er sondierte mit der Hand die Kartentasche an der Tür des Mitfahrers und zog eine Karte und einen Briefumschlag heraus. Das Kuvert war lang und flach, von graublauer Farbe mit einem Leinendessin. Kontinental, dachte Mendel. Draufgeschrieben war nichts. Er riß es auf. Es waren zehn alte Fünfpfundnoten drin und eine gewöhnliche Postkarte ohne Marke. Mendel hielt sie ans Licht und las die mit Kugelschreiber und in Blockbuchstaben geschriebene Mitteilung:
»Erledigt. Verkaufen Sie ihn.«
Eine Unterschrift fand sich nicht.
Er stieg wieder aus und packte Scarr an den Ellbogen. Scarr trat schnell zurück.
»Was hast du für ein Problem, Kumpel?« fragte er.
Mendel sprach sanft. »Es ist nicht mein Problem, Scarr, es ist deines. Das verdammt größte Problem, das du je gehabt hast. Mitschuld an Mord, versuchtem Mord, Vergehen gegen den Official Secrets Act. Und dazu kannst du Übertretung der Straßenverkehrsordnung, Steuerhinterziehung und ungefähr fünfzehn andere Anklagen hinzufügen, die mir einfallen werden, während du über dein Problem auf einer Pritsche in der Gefängniszelle nachdenkst.«