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Dann kam der gesegnete Tag, an dem irgendwer die Gardinen hochgezogen haben mußte und das graue Licht des Winters hereinließ. Er hörte den Verkehr draußen und wußte, daß er leben würde.

So wurde also das Problem des Sterbens wieder ein akademisches - eine Schuld, deren Begleichung er aufschieben würde, bis er reich war und selber zahlen konnte. Sein Geist war wunderbar klar und wanderte wie Prometheus durch seine ganze Welt. Wo hatte er denn das gehört: »Vom Körper trennt sich dann der Geist, und er regiert in einem Reiche von Papier . . .?« Das Licht über ihm wurde ihm langweilig, und er wünschte, daß es mehr zu sehen gäbe. Auch die Weintrauben, der Geruch von Honig und Blumen und die Schokoladen langweilten ihn. Er wünschte sich Bücher und literarische Zeitschriften. Wie konnte er auf dem laufenden bleiben, wenn sie ihm keine Bücher gaben? Diese seine spezielle Periode wurde ohnedies wissenschaftlich so wenig erforscht, es gab so wenig schöpferische kritische Abhandlungen über das siebzehnte Jahrhundert.

Es dauerte drei Wochen, bevor man Mendel erlaubte, ihn zu besuchen. Er kam mit einem neuen Hut in der Hand hinein und hatte ein Buch über Bienen mit. Er legte den Hut auf das Fußende des Bettes und das Buch auf das Nachttischchen und grinste.

»Ich habe Ihnen ein Buch gekauft«, sagte er. »Über Bienen. Das sind gescheite kleine Kerle. Vielleicht interessiert es Sie.«

Er setzte sich auf die Bettkante. »Ich habe einen neuen Hut. Total verrückt. Zur Feier meiner Pensionierung.«

»Ach ja. Das habe ich ganz vergessen. Sie sind ja auch in der Ablage.« Sie lachten beide und schwiegen dann.

Smiley zwinkerte mit den Augen. »Ich fürchte, ich sehe Sie nicht recht deutlich im Augenblick. Ich darf meine alten Gläser nicht mehr tragen. Sie besorgen mir neue.« Er machte eine Pause. »Wissen Sie, wer es war? Wissen Sie das?«

»Vielleicht. Kommt darauf an. Ich glaube, ich habe eine Spur. Aber ich weiß nicht genug, das ist das Blöde. Über Ihre Arbeit, meine ich. Sagt Ihnen die Ostdeutsche Stahl-Mission irgend etwas?«

»Ich glaube schon, ist vor vier Jahren hergekommen. Wollte mit der Handelskammer Verbindung aufnehmen.«

Mendel erzählte von seiner Unterhaltung mit Mr. Scarr. ». . . sagte, er sei Holländer. Die einzige Kontaktmöglichkeit war eine Telefonnummer: Primrose .. . Ich habe festgestellt, wer der Teilnehmer ist. Steht als Ostdeutsche Stahl-Mission im Telefonbuch, in Belsize Park. Ich habe jemanden hingeschickt, der ein wenig herumschnüffeln sollte. Sie sind weg. Nichts mehr dort, keine Möbel, überhaupt nichts. Nur das Telefon. Und das ist aus der Wand gerissen.«

»Wann sind sie denn weg?«

»Am 3. Januar, demselben Tag, an dem Fennan umgebracht worden ist.« Er sah Smiley vielsagend an.

Smiley dachte einen Augenblick nach und sagte dann:

»Setzen Sie sich mit Peter Guillam im Verteidigungsministerium in Verbindung und bringen Sie ihn morgen her. Wenn nötig, mit Gewalt.«

Mendel nahm seinen Hut und ging zur Tür. »Auf Wiedersehen«, sagte Smiley, »danke für das Buch.«

»Also dann morgen. Auf Wiedersehen.« Mendel ging.

Smiley sank auf sein Bett zurück. Der Kopf schmerzte ihn. Zu dumm, ich habe mich nicht für den Honig bedankt. Und er war sogar von Fortnum gewesen.

Was hatte der Weckanruf zu bedeuten? Das beschäftigte ihn mehr als alles andere. Es ist eigentlich zu blöd, dachte Smiley, aber von allen ungeklärten Umständen zerbrach er sich darüber am meisten den Kopf.

Elsa Fennans Erklärung war so dumm, so auf den ersten Blick völlig unwahrscheinlich gewesen. Ann, ja, die hätte es zustande gebracht, daß die ganze Telefonzentrale köpf stand, wenn sie dazu aufgelegt war, aber auf keinen Fall Elsa Fennan. Nichts in ihrem wachen, intelligenten kleinen Gesicht, nichts an ihrer vollkommenen Selbständigkeit unterstützte ihre lächerliche Behauptung, sie sei zerstreut. Sie hätte sagen sollen, daß die Zentrale sich wahrscheinlich geirrt habe, an einem verkehrten Tag angerufen, irgend etwas anderes. Fennan ja, der war zerstreut gewesen. Das war einer der merkwürdigen Widersprüche in Fennans Charakterbild, der sich bei den Nachforschungen vor der Einvernahme herausgestellt hatte. Er las begierig Wildwest-Romane und spielte leidenschaftlich Schach. Er war Musiker und in seiner Freizeit ein Philosoph, ein tiefer Denker - aber zerstreut. Einmal hatte es seinetwegen ein fürchterliches Theater gegeben, als er geheime Akten aus dem Außenamt mitnahm. Es stellte sich dann heraus, daß er sie zusammen mit der >Times< und der Abendzeitung in seine Aktentasche gesteckt hatte, bevor er nach Walliston heimfuhr.

Hatte Elsa Fennan in ihrer Panik sich in das Mäntelchen ihres Mannes gehüllt? Oder in das Motiv ihres Mannes? Hatte Fennan den Anruf bestellt, um sich selber an etwas zu erinnern, und hatte Elsa das Motiv geborgt? Wenn das so war, woran mußte Fennan sich erinnern lassen - und was wollte seine Frau so verzweifelt verbergen?

Samuel Fennan. In ihm trafen sich die neue Welt und die alte. Der ewige Jude, kultiviert, kosmopolitisch, selbstentschlossen, fleißig und aufnahmefähig. Für Smiley ganz außergewöhnlich anziehend. Ein Kind seines Jahrhunderts. Verfolgt wie Elsa und aus seiner Wahlheimat Deutschland an die Universität nach England vertrieben. Einfach nur durch seine Begabung hatte er alle Nachteile und Vorurteile wettgemacht und war schließlich in das Außenamt eingetreten. Es war eine bemerkenswerte Leistung gewesen, die er nichts anderem verdankte als seinen brillanten Fähigkeiten. Und wenn er ein wenig eingebildet war und nicht geneigt, die Entscheidung primitiverer Geister abzuwarten, wer konnte ihm daraus einen Vorwurf machen? Es hatte einiges Stirnrunzeln gegeben, als er sich für ein geteiltes Deutschland aussprach, aber die Aufregung hatte sich wieder gelegt, er war in eine asiatische Abteilung versetzt worden, und die Affäre war vergessen. Im übrigen war er fast übertrieben generös gewesen und beliebt, in Whitehall wie in Surrey, wo er jedes Wochenende einige Stunden im Dienste der Nächstenliebe arbeitete. Sein größtes Vergnügen war das Skilaufen gewesen. Jedes Jahr nahm er seinen ganzen Urlaub auf einmal und verbrachte sechs Wochen in der Schweiz oder in Österreich. Deutschland hatte er nur ein einziges Mal besucht, erinnerte sich Smiley. Vor etwa vier Jahren, zusammen mit seiner Frau.

Es war ganz natürlich gewesen, daß Fennan sich in Oxford der Linken anschloß. Es war die große Blütezeit des Kommunismus an den Universitäten, und die Gründe dafür konnte er, bei Gott, verstehen: der Aufstieg des Faschismus in Deutschland und Italien, der Einmarsch Japans in die Mandschurei, der Aufstand Francos in Spanien, die Depression in Amerika und vor allem die Welle von Antisemitismus, die über Europa ging. Es war unausbleiblich, daß Fennan ein Ventil für seinen Zorn und eine Ablenkung suchen mußte. Übrigens war die Partei damals respektabel. Die Mißerfolge der Labour Party und der Koalitionsregierung hatten viele Intellektuelle davon überzeugt, daß allein die Kommunisten eine effektive Alternative gegenüber dem Kapitalismus und dem Faschismus zu bieten hätten. Es war die Begeisterung, die Stimmung heimlicher Verschwörung und Kameradschaft, die bei Fennans Charakter gezündet haben mußten und ihm Trost in seiner Einsamkeit gegeben hatten. Es war die Rede davon gewesen, nach Spanien zu gehen - einige waren wirklich gegangen und kehrten, wie Cornford aus Cambridge, nie zurück.

Smiley konnte sich den Samuel Fennan von damals gut vorstellen. Zerfahren und ernst, brachte er seinen Kameraden ohne Zweifel die Erfahrung echten Leidens, war ein Veteran unter Kadetten. Seine Eltern waren tot. Sein Vater war ein kleiner Bankier gewesen, der in weiser Voraussicht in der Schweiz ein kleines Konto angelegt hatte. Es war nicht viel gewesen, aber es reichte zur Not für das Studium in Oxford und schützte ihn vor dem kalten Wind der Armut.

Smiley erinnerte sich ganz genau an sein Gespräch mit Fennan. Einer von vielen, aber doch anders. Anders wegen der Sprache. Fennan war so präzis, so schnell, so sicher. »Ihr größter Tag«, hatte er erzählt, »war, als die Bergarbeiter kamen. Sie kamen von Rhondda, verstehen Sie, und es kam den Genossen so vor, als wäre der Geist der Freiheit mit ihnen von den Hügeln heruntergestiegen. Es war ein Hungermarsch. Es fiel der Gruppe gar nicht ein, daß die Marschierer vielleicht wirklich hungrig sein könnten, aber ich dachte daran. Wir mieteten einen Lastwagen, und die Mädchen machten Stew - in rauhen Mengen. Das Fleisch bekamen wir billig von einem sympathisierenden Fleischer auf dem Markt. Dann fuhren wir ihnen entgegen. Sie aßen das Stew und marschierten weiter. Sie haben uns eigentlich nicht geliebt, verstehen Sie, sie trauten uns nicht recht.« Er lachte. »Sie waren so klein - an das erinnere ich mich am meisten -, klein und schwarz wie Kobolde. Wir hofften, daß sie singen würden, und das taten sie dann auch. Aber nicht für uns, für sich selber. Das war damals das erste Mal, daß ich Waliser gesehen habe.