Es hat mich meine eigene Rasse besser verstehen lassen, glaube ich. Ich bin Jude, sehen Sie.«
Smiley hatte genickt.
»Sie wußten nicht, was sie tun sollten, als die Waliser wieder fort waren. Was macht man, wenn ein Traum wahr geworden ist? Damals verstanden sie, warum die Partei keinen großen Wert auf Intellektuelle legte. Ich glaube, sie kamen sich hauptsächlich recht nutzlos vor und waren beschämt. Sie schämten sich ihrer Betten, ihrer Zimmer, ihrer vollen Bäuche und ihrer gescheiten Abhandlungen. Auch ihrer Fähigkeiten und ihrer Fröhlichkeit. Sie redeten immer davon, wie Keir Hardie, mit einem Stück Kreide auf dem Kohlenflöz schreibend, sich ganz allein das Stenographieren beibrachte. Sie schämten sich, daß sie Papier und Bleistift hatten. Aber es hat auch keinen Sinn, das Schreibzeug deshalb einfach wegzuwerfen, nicht wahr. Das ist mir schließlich aufgegangen. Deshalb bin ich wohl aus der Partei ausgetreten, glaube ich.«
Smiley wollte ihn fragen, was er selbst gefühlt habe, aber Fennan redete schon weiter. Er hatte nichts mit ihnen gemein, das war ihm klar geworden. Sie waren keine Männer, sondern Kinder, die von Freiheitsfeuern, Zigeunermusik und einer einheitlichen Welt von morgen träumten, auf weißen Rossen über die Bucht von Biskaya ritten oder mit kindischem Vergnügen für hungernde Kobolde aus Wales Bier kauften. Kinder, die nicht die Kraft hatten, der Sonne aus dem Osten Widerstand zu leisten, und ihr gehorsam zu Tausenden ihre Köpfe zuwandten. Sie liebten einander und glaubten, daß sie die Menschheit liebte, sie bekämpften einander und meinten, sie kämpften gegen die Welt.
Bald hatte er sie komisch und rührend gefunden. Ebensogut hätten sie für Soldaten Socken stricken können. Das Mißverhältnis zwischen Traum und Wirklichkeit veranlaßte ihn, beide genau zu analysieren. Er konzentrierte seine ganze Energie auf philosophische und historische Lektüre, und zu seiner Überraschung fand er in der geistigen Klarheit des Marxismus Trost und Frieden. Er ergötzte sich an seiner intellektuellen Unbarmherzigkeit, bewunderte seine Furchtlosigkeit bei der akademischen Umkehrung traditioneller Werte. Schließlich war es das, und nicht die Partei, was ihm in seiner Einsamkeit Kraft gab. Eine Philosophie, die totale Hingabe an eine unangreifbare dogmatische Formel verlangte, die ihn demütigte und inspirierte. Und als er endlich Erfolg, Wohlstand und Aufnahme gefunden hatte, wandte er ihr traurig den Rücken wie einem Schatz, dem er entwachsen war und mit den Träumen seiner Jugend in Oxford lassen mußte.
So hatte es Fennan geschildert, und Smiley hatte ihn verstanden. Es war kaum die Geschichte von Zorn und Ressentiment, die Smiley erfahrungsgemäß bei solchen Einvernahmen zu erwarten pflegten, aber (oder vielleicht eben deshalb) sie kam ihm wirklicher vor. Und dann war da noch ein Punkt, im Zusammenhang mit der Einvernahme, nämlich Smileys Überzeugung, daß Fennan irgend etwas Wichtiges unausgesprochen gelassen hatte.
Bestand tatsächlich eine Verbindung zwischen dem Vorfall in Bywater Street und Fennans Tod? Smiley machte sich den Vorwurf, übers Ziel zu schießen. Bei objektiver Betrachtung gab es nichts außer der zeitlichen Aufeinanderfolge der Ereignisse, das angedeutet hätte, daß Fennan und Smiley irgendwie zusammenhingen.
Das heißt, die zeitliche Aufeinanderfolge und das Gewicht von Smileys Intuition, Erfahrung oder was sonst - dieses besonderen Sinnes, der ihn veranlaßt hatte, zu klingeln, statt seinen Schlüssel zu gebrauchen, dieses Sinnes, der ihn allerdings nicht gewarnt hatte, als hinter ihm in der Nacht ein Mörder mit einem Bleirohr stand.
Die Vernehmung war inoffiziell gewesen, das war richtig. Der Spaziergang im Park erinnerte ihn mehr an Oxford als an Whitehall. Der Spaziergang im Park, das Café in Millbank. Ja, es war auch in dem ganzen Verfahren ein Unterschied gegen sonst, aber worauf lief das schon hinaus? Ein Beamter des Außenamtes geht im Park spazieren und spricht ernst mit einem kleinen unbekannten Mann . . . Außer natürlich, der kleine Mann war nicht so unbekannt.
Smiley nahm eine Broschüre zur Hand und begann auf dem Vorsatzblatt zu schreiben:
»Nehmen wir an - was in keiner Weise bewiesen ist -, daß der Mörder Fennans und der Mann, der Smiley zu ermorden versuchte, identisch sind. Welche Umstände verknüpften Smiley mit Fennan vor dessen Tod?
1. Vor der Vernehmung am Montag, dem 2. Januar, habe ich Fennan noch nie gesehen. Ich habe im Department sein Dossier gelesen und gewisse Vorerhebungen gemacht.
2. Am 2. Januar fuhr ich mit einem Taxi allein zum Außenministerium. Das A. M. arrangierte die Einvernahme, wußte aber nicht, ich wiederhole, wußte nicht im voraus, wer sie durchführen würde. Fennan hatte deshalb vorher keine Kenntnis von meiner Identität, ebenso niemand außerhalb des Department.
3. Die Unterredung zerfiel in zwei Teile: den ersten im A. M., bei dem Leute durch das Büro gingen und uns in keiner Weise beachteten, und den zweiten draußen, wo uns jeder beliebige beobachten konnte.«
Was war daraus zu schließen? Nichts, außer . . .
Ja, das war der einzig mögliche Schluß: . . . außer, daß derjenige, der sie beisammen sah, nicht nur Fennan, sondern auch Smiley kannte und auf ihr Zusammensein auf das heftigste reagierte.
Warum? In welcher Weise war Smiley gefährlich? Auf einmal gingen seine Augen ganz weit auf. Natürlich in einer Weise, nur auf diese Weise - als Beamter des Sicherheitsdienstes.
Er legte seinen Bleistift hin.
Derjenige also, der Sam Fennan getötet hatte, war aufs äußerste daran interessiert, daß Fennan nicht mit einem vom Sicherheitsdienst sprechen sollte. Vielleicht jemand im Außenamt? Aber besonders jemand, der auch Smiley kannte. Vielleicht jemand, der Fennan in Oxford gekannt hatte, als Kommunisten gekannt hatte. Einer, der sich davor fürchtete, bloßgestellt zu werden, der dachte, Fennan würde reden, vielleicht schon geredet haben? Und wenn er geredet hatte, dann mußte Smiley natürlich beseitigt werden - und zwar schnell, bevor er seinen Bericht abliefern konnte.
Das würde den Mord an Fennan und den Anschlag auf Smiley erklären. Das gab der Sache einen gewissen Sinn, aber auch nicht sehr viel. Er baute sein Kartenhaus so hoch es ging und hatte noch immer Karten in der Hand. Was war mit Elsa, ihren Lügen, wie war sie hineinverwickelt, warum hatte sie Angst? Der Wagen, der Anruf um halb neun? Wie war das mit dem anonymen Brief? Wenn der Mörder Angst vor einem Kontakt zwischen Smiley und Fennan hatte, dann hätte er doch wohl kaum die Aufmerksamkeit auf Fennan gelenkt, indem er ihn denunzierte. Also wer? Wer?
Er legte sich zurück und schloß die Augen. In seinem Kopf tobte es schon wieder. Vielleicht konnte Peter Guillam helfen. Er war die einzige Hoffnung. Alles begann sich um ihn zu drehen, und er hatte wieder fürchterliche Schmerzen.
Es wird aufgeräumt
Mendel führte Peter Guillain in das Krankenzimmer und grinste breit. »Hab' ihn«, sagte er.
Das Gespräch war anfangs peinlich. Etwas gespannt, wenigstens für Guillam, mit Rücksicht auf Smileys plötzlichen Austritt und die ungehörige Tatsache, daß man sich in einem Krankenzimmer traf. Smiley trug eine blaue Bettjacke, sein Haar war borstig und unordentlich, wegen des Verbandes, und er hatte noch immer die Spur einer heftigen Quetschung an seiner linken Schläfe.