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»Wann läßt man Sie denn raus?«

»Weiß nicht, wann sie mich gehen lassen.«

»Haben Sie denn nicht gefragt?«

»Nein.«

»Das sollten Sie doch lieber tun. Ich habe Neuigkeiten für Sie. Ich weiß nicht, was es bedeutet, aber etwas bedeutet es.«

»Na also«, sagte Guillam, »alle haben Neuigkeiten für alle. Fabelhaft. George hat sich gerade meine Familienbilder angesehen.« Er hob die grüne Mappe. »Und er erkennt alle seine alten Busenfreunde.«

Mendel kam sich verspottet und auf die Seite geschoben vor. Smiley tröstete ihn: »Ich werde Ihnen morgen abend alles beim Dinner erzählen. Ich muß morgen früh hier raus, ganz gleich, was sie sagen. Ich glaube, wir haben den Mörder gefunden und noch eine Menge andere Sachen so nebenbei. Also, was haben Sie zu berichten?« In seinen Augen war kein Triumph. Nur Eifer.

Die Mitgliedschaft in dem Klub, zu dem Smiley gehörte, wurde von den Leuten, die die Spalten von »Wer ist wer?« zieren, nicht gerade zu den erstrebenswertesten Errungenschaften gezählt, eher zu den drittklassigen. Er wurde von einem jungen Renegaten des Junior-Carlton-Klubs namens Steed-Asprey gegründet, den der Sekretär dieses Klubs verwarnt hatte, weil er in Hörweite eines südafrikanischen Bischofs gotteslästerliche Reden führte. Er überredete seine ehemalige Zimmerfrau aus Oxford, ihr ruhiges Heim in Hollywell zu verlassen und am Manchester Square zwei Zimmer und einen Keller zu übernehmen, die ihm ein begüterter Verwandter zur Verfügung gestellt hatte. Seinerzeit hatte der Klub vierzig Mitglieder gehabt, die jeder fünfzig Pfund im Jahr zahlten. Es waren noch einunddreißig am Leben. Es gab keine Damen und keine Regeln, keinen Sekretär und keine Bischöfe. Man konnte Sandwiches nehmen und eine Flasche Bier kaufen, auch Sandwiches nehmen und gar nichts dazu kaufen. Solange man einigermaßen nüchtern war und sich nicht in die Angelegenheiten anderer mischte, kümmerte sich kein Mensch darum, was man anhatte, was man machte oder wen man mitbrachte. Mrs. Sturgeon hantierte nicht mehr an der Bar oder brachte einem das Kotelett auf den Tisch im Keller vor dem Kaminfeuer, sondern regierte in heiterer Behaglichkeit über die Tätigkeit von zwei pensionierten Feldwebeln eines kleinen Grenzregiments.

Natürlicherweise hatten die meisten der Mitglieder zur gleichen Zeit wie Smiley in Oxford studiert. Man hatte darin immer übereingestimmt, daß der Klub nur für eine Generation sein sollte, daß er zusammen mit seinen Mitgliedern alt werden und sterben sollte. Der Krieg hatte mit Jebedee und anderen seinen Tribut verlangt, aber nie hatte jemand angeregt, man solle neue Mitglieder aufnehmen. Im übrigen gehörte das Haus jetzt ihnen, für Mrs. Sturgeons Alter hatte man gesorgt, und der Klub war solvent.

Es war an einem Samstagabend, und nur ein halbes Dutzend Mitglieder waren anwesend. Smiley hatte ihr Essen bestellt, und im Keller war für sie ein Tisch gedeckt. In einem gemauerten Kamin brannte ein helles Kohlenfeuer. Sie waren allein und hatten Filet de boeuf und Rotwein. Draußen regnete es ununterbrochen. Alle drei fanden die Welt an diesem Abend ruhig und ganz erträglich, obwohl sie ein merkwürdiges Geschäft zusammengeführt hatte.

»Damit das, was ich Ihnen erzählen will, verständlich sein soll«, begann Smiley endlich, wobei er sich hauptsächlich an Mendel wandte, »muß ich Ihnen zunächst ausführlich von mir erzählen. Ich bin von Beruf Beamter des Geheimen Nachrichtendienstes, wie Sie wissen, schon seit ewigen Zeiten, und bevor noch das Tauziehen um die Macht mit Whitehall begann. Damals hatten wir zuwenig Leute und waren schlecht bezahlt. Nach der üblichen Lehrzeit und der Bewährungszeit in Südamerika und Mitteleuropa bekam ich eine Stelle als Lektor an einer Universität in Deutschland und sollte begabte junge Deutsche ausfindig machen, die als potentielle Agenten in Frage kamen.« Er hielt inne, lächelte Mendel zu und sagte: »Sie entschuldigen den Fachausdruck.« Mendel nickte feierlich, und Smiley fuhr fort. Es war ihm klar, daß er etwas hochtrabend sprach, und er wußte nicht, wie er dem ausweichen sollte.

»Es war kurz vor dem Zweiten Weltkrieg, damals eine schreckliche Zeit in Deutschland, wo eine wahnsinnige Intoleranz losgebrochen war. Es wäre Irrsinn gewesen, sich persönlich jemandem zu nähern. Meine einzige Chance war, ein so unbeschriebenes Blatt zu sein, wie ich konnte, politisch und gesellschaftlich farblos, und die Kandidaten, die sich für eine Anwerbung eigneten, durch andere weiterleiten zu lassen. Ich versuchte, einige von ihnen für kurze Zeit auf Studentenreisen nach England zu bringen. Ich legte großen Wert darauf, überhaupt keinen Kontakt mit dem Departement zu haben, wenn ich nach Hause kam, denn damals hatten wir überhaupt keine Ahnung von der Schlagkraft der deutschen Gegenspionage. Ich erfuhr nie, an wen man herantrat, und das war natürlich viel besser so. Für den Fall, daß ich hochging, meine ich.

Meine Geschichte beginnt eigentlich im Jahre 1938. Ich war allein in meiner Wohnung. Es war ein warmer und friedlicher Abend nach einem herrlichen Sommertag. Als hätte man vom Faschismus noch nie etwas gehört. Ich arbeitete in Hemdsärmeln an meinem Schreibtisch vor dem Fenster - nicht sehr intensiv, weil es ein so schöner Abend war.«

Er machte eine Pause, aus irgendeinem Grunde aus dem Konzept geraten, und fingerte an seinem Portweinglas herum. Ganz oben auf seinen Wangen erschienen zwei rote Flecken. Er fühlte sich leicht beschwipst, obwohl er sehr wenig getrunken hatte.

»Also, um es zu wiederholen«, sagte er und kam sich idiotisch vor. »Entschuldigen Sie, ich drücke mich wohl etwas unklar aus . . . Also, auf jeden Fall, wie ich so dasaß, klopfte es an die Tür, und ein junger Student kam herein. Er war neunzehn, wie ich später hörte, sah aber jünger aus. Sein Name war Dieter Frey. Er war einer meiner Schüler, ein intelligenter Junge, und er sah bemerkenswert gut aus.« Smiley machte wieder eine Pause und starrte vor sich hin.

Vielleicht war es seine Krankheit, seine Schwäche, daß die Erinnerung ihn so stark überwältigte.

»Dieter war ein hübscher Junge mit einer hohen Stirn und einem nicht zu bändigenden schwarzen Haarschopf. Der untere Teil seines Körpers war krank, ich glaube, durch Kinderlähmung. Er benützte einen Stock und stützte sich schwer darauf, wenn er ging. Naturgemäß gab er an einer so kleinen Universität eine romantische Figur ab, man hielt ihn für eine Art Byron oder so etwas Ähnliches. Ich meinerseits konnte allerdings nie etwas Romantisches an ihm finden. Die Deutschen haben eine Leidenschaft für die Entdeckung junger Genies, wissen Sie, von Herder bis Stefan George, man hat sie praktisch von der Wiege an abgestempelt. Aber Dieter konnte man nicht zur Hoffnung der Nation erklären. In ihm war ein wilder Unabhängigkeitsdrang, eine Rücksichtslosigkeit, die so stark war, daß sie auch den überzeugtesten Förderer abgeschreckt hätte. Diese ablehnende Verteidigungsbereitschaft an Dieter kam nicht nur von seinem Leiden, sondern auch von seiner Abstammung. Er war nämlich Jude. Wie in aller Welt er es fertigbrachte, sich an der Universität zu behaupten, habe ich nie verstanden. Möglicherweise wußten sie nicht, daß er Jude war. Seine Schönheit konnte vielleicht ebensogut aus dem Süden stammen, nehme ich an, aus Italien etwa. Aber ich verstehe es eigentlich nicht ganz, denn für mich war er ganz offensichtlich ein Jude.

Dieter war ein Sozialist. Er machte kein Geheimnis aus dieser seiner Einstellung, nicht einmal in jenen Tagen. Ich überlegte eine Zeitlang, ob ich ihn nicht zur Anwerbung in Betracht ziehen sollte, aber es kam mir sinnlos vor. Er zu flatterhaft, reagierte zu rasch, war zu stark gefärbt und zu eitel. In allen Vereinen-Diskussionsklubs, politischen und literarischen Vereinen und so weiter - gab er den Ton an. In allen Sportvereinen hatte er Ehrenstellungen. Er brachte es fertig, an einer Universität nicht zu trinken, an der man seine Männlichkeit dadurch bewies, daß man die ersten beiden Semester fast ununterbrochen betrunken war.

Das war also Dieter: ein großer, hübscher, intelligenter Krüppel, das Idol seiner Generation - ein Jude. Und das war der Mann, der mich an jenem Sommerabend besuchte.