Ich bat ihn, Platz zu nehmen, und bot ihm etwas zum Trinken an. Das letztere lehnte er ab, deshalb machte ich Kaffee, auf so einem Gaskocher, glaube ich. Wir sprachen flüchtig über meine letzte Vorlesung über Keats. Ich hatte mich darüber beklagt, daß deutsche kritische Methoden auf die englische Literatur angewendet würden, und das hatte zu einer heftigen Diskussion geführt - wie üblich - über die Nazi-Interpretation der »entarteten Kunst«. Dieter brachte das Ganze wieder aufs Tableau, erklärte immer unverblümter, daß er das moderne Deutschland ablehne, und ging auch schließlich auf den Nazismus selbst los. Natürlich war ich auf der Hut - ich glaube, damals war ich nicht so ein Narr wie heute. Schließlich fragte er mich geradeheraus, was ich von den Nazis halte. Ich erklärte ziemlich deutlich, daß ich nicht geneigt sei, meine Gastgeber zu kritisieren, und daß ich überhaupt der Ansicht sei, Politik wäre keine besondere Freude. Seine Antwort werde ich nie vergessen. Er war außer sich, erhob sich mühsam und schrie mir zu: >Von Freude ist nicht die Rede!<« Smiley brach ab und sah über den Tisch hinüber Guillam an: »Tut mir leid, Peter, ich bin wohl ziemlich langatmig.«
»Aber Unsinn, alter Junge. Du erzählst die Geschichte auf deine eigene Weise, und damit basta.« Mendel brummte zustimmend. Er saß ziemlich steif da und hatte beide Hände vor sich auf den Tisch gelegt. Außer der hellen Glut des Feuers war jetzt kein Licht im Zimmer, und die Flammen warfen riesige Schatten auf die grob verputzte Wand hinter ihnen. Die Karaffe mit dem Portwein war zu zwei Dritteln geleert.
Smiley schenkte sich ein und fuhr fort: »Er ging wütend auf mich los. Er konnte nicht verstehen, wie ich einerseits einen unabhängigen Maßstab an die Kunstkritik legen und andererseits der Politik gegenüber gleichgültig sein konnte, wie ich über die Freiheit der Kunst daherreden konnte, wenn ein Drittel Europas in Ketten lag. Bedeutete es mir nichts, daß die Kultur der Gegenwart verblutete? Was war so geheiligt am neunzehnten Jahrhundert, daß ich das zwanzigste wegwerfen konnte? Er sei zu mir gekommen, weil ihm mein Seminar gefalle und er mich für einen aufgeklärten Menschen gehalten habe, aber jetzt sei ihm klar geworden, daß ich ärger sei als alle anderen.
Ich ließ ihn sich austoben. Was sonst hätte ich tun können? Er war ja auf jeden Fall schon von Haus aus verdächtig. Ein rebellischer Jude mit einem Platz an der Universität und rätselhafterweise noch immer auf freiem Fuß. Aber ich beobachtete ihn. Das Semester war schon fast zu Ende, und die großen Ferien standen vor der Tür. Bei der Semesterschluß-Diskussion, drei Tage später, war er fürchterlich offenherzig. Er jagte den anderen direkt eine panische Angst ein, so daß sie schwiegen und sich dachten, das könne nicht gut ausgehen. Nach Semesterschluß verschwand Dieter, ohne mir Lebewohl zu sagen. Ich dachte nicht, daß ich ihn jemals wiedersehen würde.
Es dauerte ungefähr sechs Monate, bevor er mir wieder begegnete. Ich hatte Freunde besucht, in der Nähe von Dresden, wo Dieter zu Hause war, und kam eine halbe Stunde zu früh auf den Bahnhof. Statt auf dem Bahnsteig herumzustehen, beschloß ich, einen kleinen Bogen zu schlagen. Ein paar hundert Meter vom Bahnhof entfernt stand ein großes, ziemlich häßliches altes Haus. Vorne war ein kleiner Vorhof mit hohen Eisengittern und einem schmiedeeisernen Tor. Man hatte es offenbar als behelfsmäßiges Gefängnis hergerichtet. Eine Gruppe von geschorenen Gefangenen, Männern und Frauen, wurde in dem Hof im Kreis zu ihrem Spaziergang herumgetrieben. In der Mitte des Kreises standen zwei Wächter mit Maschinenpistolen. Eine bekannte Gestalt, größer als die anderen, die hinkte und Mühe hatte, mit ihnen mitzukommen, fiel mir ins Auge. Es war Dieter. Sie hatten ihm den Stock weggenommen.
Als ich später darüber nachdachte, wurde mir klar, daß die Gestapo den populärsten Studenten der Universität natürlich nicht verhaftet hatte, solange das Semester lief. Ich ließ meinen Zug Zug sein, ging in die Stadt zurück und suchte seine Eltern im Telefonbuch. Ich wußte, daß sein Vater Arzt war, das war also nicht schwer. Ich suchte die Adresse auf, fand aber nur seine Mutter vor. Sein Vater war bereits im Konzentrationslager zugrunde gegangen. Sie lehnte es ab, über Dieter zu sprechen, aber es schien, als ob er nicht in ein Gefängnis für Juden, sondern in ein gewöhnliches gekommen wäre, und offenbar nur für eine gewisse >Korrektionszeit<. Sie glaubte, daß er in etwa drei Monaten wiederkommen würde. Ich trug ihr auf, ihm zu sagen, daß ich noch ein paar Bücher von ihm hätte, die ich zurückgeben würde, wenn er mich besuchen wolle.
Ich fürchte, daß mich die Ereignisse des Jahres 1939 sehr in Anspruch nahmen, so daß ich nicht glaube, Dieter in diesem Jahr noch einen weiteren Gedanken geschenkt zu haben. Bald nachdem ich von Dresden zurückgekommen war, beorderte mich das Department nach England zurück. Ich packte und reiste innerhalb von achtundvierzig Stunden ab. In London war die Hölle los. Man gab mir einen neuen Auftrag, der genaue Vorbereitung, intensives Studium und Training erforderte. Ich sollte sofort nach Europa zurückgehen, um fast nicht erprobte Agenten in Deutschland zu aktivieren, die man für so einen Notfall angeworben hatte. Ich begann, die vielen komischen Namen und Adressen auswendig zu lernen. Meine Reaktion, als ich Dieter unter ihnen fand, können Sie sich wohl vorstellen.
Als ich sein Dossier las, entdeckte ich, daß er sich mehr oder weniger selbst gestellt hatte, indem er im Konsulat in Dresden erschien und Aufklärung darüber verlangte, warum niemand gegen die Verfolgung der Juden in Deutschland auch nur einen Finger rührte.« Smiley machte eine Pause und lachte in sich hinein. »Dieter hatte eine große Begabung dafür, Leute in Aktion zu setzen.« Er warf Mendel und Guillam einen Blick zu. Beide sahen ihn aufmerksam an.
»Ich glaube, daß meine erste Reaktion Ärger war. Der Junge war gerade vor meiner Nase herumspaziert, und ich hatte ihn nicht für geeignet gehalten. Was für einen Blödsinn hatte da irgend so ein Esel in Dresden gemacht? Und dann war ich erschrocken, so einen Hitzkopf unter meinen Leuten zu haben, dessen impulsives Temperament mein Leben und das anderer kosten konnte. Trotz der leichten Veränderungen meines Äußeren und des neuen Decknamens, unter dem ich arbeitete, würde ich mich Dieter gegenüber einfach nur als George Smiley von der Universität zu erkennen geben müssen, und er konnte mich haushoch auffliegen lassen. Es schien mir ein unglücklicher Anfang zu sein, und ich war schon halb entschlossen, mein Netz ohne Dieter aufzubauen. Ich irrte mich aber. Er war ein großartiger Agent.
Er unterdrückte seine Hitzköpfigkeit nicht, sondern verwendete sie in sehr geschickter Weise zu einem doppelten Bluff. Wegen seiner Invalidität kam er für den Dienst mit der Waffe nicht in Betracht und fand einen Büroposten bei der Bahn. In kürzester Zeit hatte er sich in eine wirklich verantwortliche Stellung hinaufgearbeitet, und die Menge von Informationen, die er lieferte, war einfach phantastisch. Einzelheiten über Truppenverschiebungen und Munitionstransporte, ihr Ziel und das Datum, wann sie durchkamen. Später berichtete er über den Erfolg unserer Bombenangriffe und bezeichnete kriegswichtige Ziele. Er war ein brillanter Organisator, und das, glaube ich, hat ihn gerettet. Er hat bei der Eisenbahn eine erstklassige Arbeit geleistet, machte sich unentbehrlich und schuftete Tag und Nacht. Er wurde fast unangreifbar. Sie haben ihm sogar eine Zivilauszeichnung für besondere Verdienste gegeben, und ich glaube, daß die Gestapo sein Dossier einfach absichtlich verschwinden ließ.
Dieters Theorie stützte sich ganz auf Faustsche Gedanken: Denken allein ist wertlos. Man muß handeln, damit das Denken wirksam wird. Er sagte immer, daß der größte Fehler, den der Mensch je gemacht hätte, der sei, daß er zwischen Geist und Körper unterschied. Eine Ordnung, die nicht beachtet wird, existiert nicht. Er zitierte gerne Kleist: >Wenn alle Augen aus grünem Glas wären und alles, was weiß zu sein scheint, in Wirklichkeit grün wäre, dann wäre man so klug wie vorher<, oder so ähnlich.