»Als ich Sie damals an dem Morgen vor einem Monat verließ, fuhr ich nach London nach Hause. Ein Mann versuchte, mich umzubringen. Am Abend desselben Tages gelang es ihm um ein Haar - er hat mich drei- oder viermal auf den Kopf geschlagen. Ich bin gerade aus dem Spital entlassen worden. Ich habe Glück gehabt. Dann ist da der Garagenbesitzer, von dem er den Wagen gemietet hatte. Vor nicht allzulanger Zeit hat die Wasserschutzpolizei seine Leiche aus der Themse gefischt. Zeichen von Gewalt hat man nicht gefunden, er war nur voll Whisky. Man versteht es nicht, denn seit Jahren war er nie in die Nähe des Flusses gekommen. Aber wir haben es eben mit einem fachkundigen Mann zu tun, nicht wahr. Mit einem erfahrenen Mörder. Es sieht so aus, als wolle er jeden beiseite schaffen, der ihn in Verbindung mit Samuel Fennan bringen kann. Oder seiner Frau, natürlich. Da ist dann weiter dieses blonde Mädchen aus dem Theater . . .«
»Was sagen Sie da?« flüsterte sie. »Was wollen Sie mir da einreden?«
Smiley fühlte plötzlich den Wunsch, ihr weh zu tun, um ihren letzten Willen zu brechen, sie als Gegner völlig auszuschalten. Denn schon allzulange hatte sie ihn, als er hilflos im Bett lag, wie ein Gespenst verfolgt, war ein Rätsel und eine Drohung gewesen.
»Was für ein Spiel haben Sie eigentlich gespielt, Sie beide? Haben Sie gedacht, daß Sie mit so einer Macht, wie die sie haben, flirten können, ein bißchen, aber nicht alles geben können? Bilden Sie sich etwa ein, daß Sie den Tanz beenden können - oder denen vielleicht so viel Macht einräumen, wie Ihnen selbst paßt? Was für Hirngespinsten haben Sie eigentlich nachgejagt, Mrs. Fennan, Träumen, denen Hand und Fuß gefehlt haben?«
Sie verbarg ihr Gesicht in beiden Händen, und er sah, wie ihr die Tränen zwischen den Fingern herunterliefen. Sie schluchzte stoßweise, während ihr Körper konvulsivisch zuckte, und ihre Worte kamen langsam und gepreßt.
»Nein, keine Träume. Ich hatte keinen Traum außer ihm. Ja er, er hatte einen Traum . . . einen einzigen großen Traum.« Sie weinte wieder hilflos, und Smiley wartete halb triumphierend, halb beschämt darauf, daß sie weitersprechen würde. Plötzlich hob sie ihren Kopf und sah ihn an, während die Tränen ihr noch immer über die Wangen liefen. »Sehen Sie mich an«, sagte sie. »Was für einen Traum hat man mir gelassen? Ich habe von langem goldenem Haar geträumt - und man hat mir den Kopf geschoren, ich träumte von einem schönen Körper - und man hat ihn durch Hunger verunstaltet. Ich habe erlebt, was menschliche Wesen wirklich sind, wie konnte ich da an eine Formel für menschliche Wesen glauben. Ich habe es ihm gesagt, tausendmal habe ich ihm gesagt: >Mach nur keine Gesetze, keine ausgeklügelten Theorien, keine Werturteile, und die Menschen werden vielleicht lieben, aber gib ihnen eine einzige Theorie, ein einziges Schlagwort, und das alte Spiel beginnt von neuem.< Das habe ich ihm gesagt. Wir haben oft nächtelang miteinander geredet. Aber nein, der kleine Junge mußte einen Traum haben, und wenn eine neue Welt aufgebaut werden sollte, dann mußte es Samuel Fennan sein, der sie baute. Ich sagte zu ihm: >Hör mir doch zu<, habe ich gesagt, >sie haben dir alles gegeben, was du hast, ein Haus, Geld und Vertrauen. Warum willst du ihnen das antun?< Und er hat mir gesagt: >Ich tue es eben gerade für sie.
Ich bin der Arzt, und eines Tages werden sie verstehen.« Er war ein Kind, Mr. Smiley, sie haben ihn wie ein Kind geführt.«
Er wagte es nicht, zu sprechen.
»Vor fünf Jahren hat er diesen Dieter kennengelernt. In einer Skihütte in der Nähe von Garmisch. Freitag sagte uns später, daß Dieter alles ganz genauso geplant hatte - Dieter konnte ja wegen seines Beins gar nicht skilaufen. Damals schien überhaupt nichts wirklich zu sein. Freitag war kein wirklicher Name. Fennan hat ihn Freitag getauft, so wie in Robinson Crusoe der befreite Gefangene Freitag hieß. Dieter fand das so komisch, und später redeten wir nie von Dieter, sondern immer von Robinson und Freitag.« Sie hörte auf zu reden und sah ihn mit einem sehr schwachen Lächeln an. »Es tut mir leid«, sagte sie, »aber ich fürchte, daß ich nicht sehr zusammenhängend erzähle.«
»Ich verstehe es schon«, sagte Smiley.
»Dieses Mädchen - was haben Sie über dieses Mädchen gesagt?«
»Sie lebt, machen Sie sich keine Sorgen. Erzählen Sie ruhig weiter.«
»Fennan hat Sie gern gemocht, verstehen Sie. Freitag hat versucht, Sie umzubringen . . . warum?«
»Weil ich zurückgekommen bin, nehme ich an, und Sie wegen des Anrufes um halb neun ausgefragt habe. Davon haben Sie Freitag doch erzählt, nicht wahr?«
»O Gott«, sagte sie und preßte die Finger an den Mund.
»Sie haben ihn doch wahrscheinlich sofort, als ich weg war, angerufen.«
»Ja, ich bekam Angst. Ich wollte ihn warnen, damit er fortgeht, ihn und Dieter, und nie mehr zurückkommt, denn ich wußte, daß Sie schließlich auf alles kommen würden. Wenn nicht heute, dann später, aber ich war sicher, daß Sie am Ende alles aufdecken würden. Warum konnten sie mich nie in Ruhe lassen? Sie haben Angst vor mir gehabt, denn sie haben gewußt, daß ich keine Träume habe, daß ich nur Samuel wollte, nur wollte, daß er in Sicherheit ist, daß ich nur ihn lieben und nur für ihn sorgen wollte.«
In Smileys Kopf pochte und tobte es. »Also, Sie haben ihn gleich angerufen«, sagte er. »Sie haben zuerst die Primrose-Nummer probiert und sind nicht durchgekommen.«
»Ja«, sagte sie leise, »aber es sind beide Primrose-Nummern.«
»Dann haben Sie also die andere Nummer, die zweite Möglichkeit, angerufen . . .«
Plötzlich erschöpft und schwach, wankte sie zum Fenster zurück. Sie kam ihm jetzt weniger unglücklich vor - nach dem Sturm war sie nachdenklich und irgendwie zufrieden.
»Ja, Alternativen waren Freitags starke Seite.«
»Was war das für eine Nummer, die andere?« bohrte Smiley. Er beobachtete sie gespannt, wie sie zum Fenster in den dunklen Garten hinausstarrte.
»Wozu wollen Sie das wissen?«
Er stand auf, trat neben sie ans Fenster und betrachtete ihr Profil. Seine Stimme war mit einemmal barsch und energisch.
»Ich habe gesagt, daß dem Mädel nichts passiert ist. Auch Sie und ich sind noch am Leben. Aber bilden Sie sich nicht ein, daß es dabei bleiben wird.«
Sie drehte sich mit Angst in den Augen zu ihm um, blickte ihn einen Moment an und nickte dann. Smiley nahm sie am Arm und führte sie zu ihrem Stuhl zurück. Er sollte ihr etwas Heißes zum Trinken machen oder irgend etwas anderes. Sie nahm mechanisch Platz, gleichgültig und unbeteiligt, als wäre sie geistesgestört.
»Die andere Nummer war 9747.«
»Und die Adresse - hatten Sie eine Adresse?«
»Nein, Adresse keine. Nur die Telefonnummer und Kniffe beim Telefonieren. Keine Adresse«, wiederholte sie mit unnatürlicher Betonung, so daß Smiley sie mißtrauisch ansah. Plötzlich kam ihm die Erinnerung an Dieters Geschicklichkeit bei der Schaffung von Verständigungsmöglichkeiten.
»Freitag hat Sie an dem Abend, an dem Fennan gestorben ist, nicht getroffen. Das stimmt doch. Er ist im Theater nicht erschienen.«
»Nein.«
»Das war das erste Mal, daß er nicht gekommen ist, nicht wahr? Sie haben eine panische Angst bekommen und sind früher weg.«
»Nein ... ja ja, ich hatte eine panische Angst.«
»Nein, eben nicht! Sie sind früher weg, weil Sie mußten. So war es nämlich besprochen. Warum mußten Sie früher gehen? Aus welchem Grunde?«
Sie verbarg ihr Gesicht in den Händen.
»Kommen Sie zu sich!« schrie Smiley. »Glauben Sie noch immer, die Situation im Griff zu haben, die Sie geschaffen haben? Freitag wird Sie ermorden, das Mädchen ermorden, morden, morden, morden. Wen wollen Sie schützen, das Mädchen oder einen Mörder?«
Sie weinte und gab keine Antwort. Smiley neigte sich über sie. Er schrie noch immer.
»Ich werde Ihnen gleich sagen, warum Sie früher weggegangen sind. Ich will Ihnen verraten, was ich mir denke. Deshalb, weil Sie noch die letzte Post in Weybridge erwischen wollten. Er war nicht gekommen, Sie hatten die Garderobenzettel nicht austauschen können, nicht wahr, deshalb sind Sie den Instruktionen gefolgt und haben ihm Ihren Schein mit der Post geschickt. Sie haben eben doch eine Adresse, nicht aufgeschrieben, aber auswendig gelernt, und zwar auf ewige Zeiten auswendig gelernt: >Wenn irgend etwas schiefgeht, wenn ich nicht komme, dann ist das die Adresse.« Hat er das nicht gesagt? Eine Adresse, von der man nie sprechen durfte, die normalerweise nie benützt werden sollte, eine Adresse, die man vergessen sollte und doch eisern im Gedächtnis behalten. Stimmt das? Reden Sie!«