Sie erhob sich, wendete ihren Blick von ihm, ging zum Schreibtisch und nahm ein Stück Papier und einen Bleistift. Sie weinte heftig. Quälend langsam schrieb sie die Adresse. Ihre Hand stockte und hielt zwischen den einzelnen Worten fast still.
Er nahm ihr den Zettel aus der Hand, faltete ihn in der Mitte zusammen und legte ihn in seine Brieftasche.
Jetzt konnte er ihr Tee machen.
Sie sah aus wie ein Kind, das man aus der See gerettet hatte. Sie saß auf der Kante des Sofas, hielt die Teetasse fest zwischen ihren zarten Händen und drückte sie gegen ihren Körper. Ihre mageren Schultern waren nach vorne gesunken, die Beine und Fußknöchel hatte sie fest zusammengepreßt. Smiley sah sie an und verstand, daß er etwas in ihr zerbrochen hatte, das er nie hätte berühren dürfen, weil es so zerbrechlich war. Er kam sich wie ein gemeiner, grober Klotz vor, und daß er ihr Tee gemacht hatte, schien ihm nur ein nichtiger, vergeblicher Versuch zu sein, seine täppische Roheit wiedergutzumachen.
Er wußte nicht, was er ihr sagen sollte. Nach einer Weile meinte sie: »Er hat Sie gemocht. Wirklich, er konnte Sie gut leiden ... er hat gesagt, Sie sind ein gescheiter kleiner Mann. Es war ziemlich selten, daß Samuel jemanden gescheit nannte.« Sie schüttelte langsam den Kopf. Vielleicht war es die Erinnerung, daß sie lächelte: »Er hat immer gesagt, es gibt zweierlei Kräfte in der Welt, die positiven und die negativen. >Was soll ich also tun<, hat er mich immer gefragt, »zusehen, wie sie ihre eigene Ernte vernichten, nur deshalb, weil sie mir Brot geben? Produktivität, Fortschritt, Macht und die ganze Zukunft der Menschheit warten an ihrer Tür. Soll ich sie nicht hereinlassen?« Und ich habe ihm gesagt: »Aber, Samuel, vielleicht sind die Leute ganz glücklich ohne das alles.« Aber, verstehen Sie, er hat nicht so gedacht über die Menschen.
Aber ich konnte ihn nicht stoppen. Wissen Sie, was das Merkwürdigste an Fennan war? Trotz allem Nachdenken und Reden war er schon vor langer Zeit zu dem Entschluß gekommen, was er tun würde. Alles übrige war Poesie. Er war nicht eingeordnet, das habe ich ihm immer gesagt. . .«
». . . und doch haben Sie ihm geholfen«, sagte Smiley.
»Ja, ich habe ihm geholfen. Er hat Hilfe gebraucht, und ich habe ihm geholfen. Er war mein Leben.«
»Ja.«
»Das war ein Fehler. Er war wie ein kleiner Junge, verstehen Sie? Wie ein Kind hat er immer alles vergessen. Und so unrealistisch. Er hatte den Entschluß gefaßt, es zu tun, und er hat es so schlecht getan. Er hat nicht so darüber gedacht wie Sie oder ich. So hat er einfach nicht denken können. Es war seine Aufgabe, und das war alles.
Es hat so simpel begonnen. Eines Abends hat er den Durchschlag eines Telegramms mit nach Hause gebracht und mir gezeigt. Er sagte: >Ich glaube, das sollte man Dieter zeigen« - das war das Ganze. Zuerst konnte ich es nicht glauben - ich meine, daß er ein Spion war. Denn das war er doch, nicht? Langsam ging mir ein Licht auf. Sie fingen an, bestimmte Sachen zu verlangen. Die Notenmappe, die ich von Freitag bekam, begann Aufträge zu enthalten, und manchmal Geld. Ich habe zu ihm gesagt: >Schau, was sie dir da schicken - ist dir das wirklich recht?< Wir wußten nicht, was wir mit dem Geld machen sollten. Wir haben es dann hauptsächlich verschenkt, ich weiß nicht, warum. Dieter war damals im Winter sehr bös, wie ich es ihm erzählt habe.«
»In welchem Winter war das?« erkundigte sich Smiley.
»Im zweiten Winter, den wir mit Dieter verbracht haben - 1956 in Murren. Das erste Mal haben wir ihn 1955 im Januar getroffen. Damals hat das alles angefangen. Und ich will Ihnen etwas sagen: Ungarn hat Samuel nichts ausgemacht, nicht das geringste. Dieter hatte damals Angst seinetwegen, verstehen Sie, das hat mir Freitag erzählt. Als Fennan mir damals im November die Sachen gab, die ich nach Weybridge bringen sollte, bin ich wütend geworden. Ich habe ihn angeschrien: »Siehst du nicht, daß es dasselbe ist? Dieselben Kanonen, dieselben Kinder, die in den Straßen sterben? Nur der Traum ist ein anderer, das Blut hat noch immer dieselbe Farbe. Ist es vielleicht das, was du willst?« habe ich ihn gefragt. »Willst du das auch für die Deutschen? Wenn ich es bin, die auf der Straße liegt, würdest du sie das dann auch mir antun lassen?« Aber er hat nur gesagt: »Nein, Elsa, es ist etwas ganz anderes«, und ich habe weitergemacht mit der Notentasche. Können Sie das verstehen?«
»Ich weiß nicht. Eigentlich nicht. Oder, ich glaube vielleicht doch.«
»Er war alles, was ich besaß. Er war mein Leben. Zuerst habe ich wohl versucht, mich zur Wehr zu setzen, glaube ich. Aber schließlich wurde ich immer mehr hineinverwickelt, und dann war es zu spät, umzukehren . . . Und dann, verstehen Sie«, sagte sie flüsternd, »gab es Zeiten, wo ich froh war, wo die Welt dem, was Samuel tat, Beifall zu klatschen schien. Das neue Deutschland war für uns kein schöner Anblick. Alte Ausdrücke tauchten wieder auf, Ausdrücke, vor denen wir als Kinder Angst hatten. Der schreckliche alte Stolz kam wieder, man konnte ihn sogar auf den Bildern in den Zeitungen erkennen, sie marschierten im alten Schritt. Fennan hat das auch gefühlt, aber er hatte, Gott sei Dank, nicht das erlebt, was ich erlebt hatte.
Wir waren in einem Lager in der Nähe von Dresden. Mein Vater war gelähmt, und er vermißte seine Zigaretten schrecklich. Ich habe ihm immer welche aus irgendwelchem Mist gerollt, den ich im Lager auftreiben konnte, nur als eine barmherzige Täuschung für ihn. Einmal hat ihn ein Wächter rauchen gesehen und begann zu lachen. Andere kamen dazu und lachten auch. Mein Vater hielt die Zigarette in seiner gefühllosen Hand und verbrannte sich die Finger. Er hat es nicht gemerkt, verstehen Sie.
Ja, wie sie den Deutschen wieder Waffen gegeben haben, Geld und neue Uniformen, dann war ich manchmal - nur für kurze Zeit - damit zufrieden, was Samuel getan hatte. Wir sind Juden, müssen Sie wissen, und deshalb . . .«
»Ja, ich verstehe schon«, sagte Smiley. »Ich habe es auch erlebt, wenigstens ein bißchen davon.«
»Ja, das hat Dieter erzählt.«
»Dieter hat das erzählt?«
»Ja, Freitag hat er es erzählt. Er hat ihm gesagt, daß Sie ein sehr gescheiter Mann sind. Sie haben ihn einmal vor dem Krieg hinters Licht geführt, und er ist erst viel später draufgekommen, hat Freitag gesagt. Er hat gesagt, daß Sie der Beste wären, den er je getroffen hätte.«
»Wann hat Freitag Ihnen das alles gesagt?«
Sie sah ihn lange an. Noch nie hatte er in einem Gesicht solch einen hoffnungslosen Jammer gesehen. Ihm fiel ein, was sie zu ihm gesagt hatte: »Die Kinder meines Schmerzes sind tot.«
Jetzt verstand er es und hörte es in ihrer Stimme, als sie sprach: »Das ist doch leicht zu erraten. In der Nacht, in der er Samuel getötet hat. Das ist ja der irrsinnige Witz, Mr. Smiley. Gerade in dem Augenblick, da Samuel so viel für sie hätte tun können - nicht dann und wann einmal ein Stück, sondern die ganze Zeit - einen ganzen Haufen von Notentaschen -, gerade in diesem Augenblick hat sie ihre eigene Angst geschlagen, hat sie zu wilden Tieren gemacht, die den töteten, den sie sich selber geschaffen hatten.
Samuel hat immer gesagt: >Sie werden siegen, weil sie wissen, was sie tun, und die anderen werden zugrunde gehen, weil sie es nicht wissen. Männer, die für einen Traum arbeiten, werden immer und ewig weitermachen.« - So hat er gesagt. Aber ich habe ihren Traum gekannt. Ich wußte, daß er uns vernichten würde. Was hat schon keine Vernichtung gebracht. Nicht einmal der Traum Christi.«