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»Aber doch hoffentlich nichts Unvorhergesehenes - keine besonders delikaten Angelegenheiten, die ihn nichts angingen?«

»Nein. Gar nichts. Er hatte massenhaft Gelegenheit, ganz offen gesagt, hat sie aber nicht benutzt. Irrsinnig, finde ich.«

»Na ja, das mußte er ja sein, wenn er den Namen seines Verbindungsmannes in sein Notizbuch geschrieben hat.«

»Und darauf können Sie sich Ihren eigenen Reim machen: Er hatte sich den Vierten im Außenministerium frei genommen - das war also der Tag, der auf seinen Sterbetag folgte. Anscheinend eine ziemliche Sensation. Sonst hat er die Arbeit direkt gefressen, sagen die Kollegen.«

»Was unternimmt denn Maston in dieser ganzen Sache?« fragte Smiley nach einer Pause.

»Im Augenblick geht er die Akten durch und kommt alle zwei Minuten mit blöden Fragen zu mir. Ich glaube, er fühlt sich einsam da drin in seinem Zimmer bei all den harten Tatsachen.«

»Ach, er wird sie schon unterdrücken, Peter, da brauchen Sie keine Angst zu haben.«

»Ja, er sagt jetzt schon, daß die ganze Anklage gegen Fennan auf der Zeugenaussage einer neurotischen Frau basiert.«

»Danke, daß Sie angerufen haben, Peter.«

»Werde Sie bald besuchen, alter Junge. Schonen Sie Ihren Kopf.«

Smiley legte den Hörer auf und wunderte sich, wo Mendel blieb. Auf dem Tisch in der Halle lag eine Abendzeitung. Er warf einen flüchtigen Blick auf die Schlagzeile: »Antisemitische Ausschreitungen. Proteste der Juden aus aller Welt«, und darunter der Bericht über Ausschreitungen gegen einen jüdischen Geschäftsinhaber in Düsseldorf. Er öffnete die Tür zum Wohnzimmer - Mendel war nicht da. Dann erblickte er ihn durch das Fenster im Garten, wie er, seinen Gartenhut auf dem Kopf, wütend mit einer Axt auf einen Baumstrunk im Vorgarten loshackte. Smiley beobachtete ihn einen Moment und ging dann in sein Zimmer hinauf, um sich wieder hinzulegen. Gerade, als er die obersten Stufen erreicht hatte, läutete das Telefon wieder.

»George? Tut mir leid, daß ich Sie wieder stören muß. Es ist wegen Mundt.«

»Ja?«

»Er ist gestern abend mit der BEA nach Berlin geflogen. Zwar unter einem anderen Namen, aber die Stewardeß erkannte ihn ohne Schwierigkeit. Das war's also. Pech, alter Freund.«

Smiley drückte die Gabel einen Augenblick mit der Hand nieder und wählte dann Walliston 2944. Er konnte hören, wie es am anderen Ende der Leitung klingelte. Plötzlich hörte es auf, und er hörte Elsa Fennans Stimme: »Hallo . . . Hallo . . . Hallo, ja, was ist denn?«

Leise legte er den Hörer wieder auf. Sie lebte.

Warum in aller Welt gerade jetzt? Warum reiste Mundt ausgerechnet jetzt ab, fünf Wochen, nachdem er Fennan umgebracht, drei Wochen, nachdem er Scarr liquidiert hatte. Warum hatte er die geringere Gefahr, nämlich Scarr, eliminiert und Elsa Fennan unbehelligt gelassen, die in ihrer neurotischen Verbitterung jeden Augenblick bereit sein konnte, ihre eigene Sicherheit außer acht zu lassen und die ganze Geschichte zu erzählen? Welche Wirkung konnte diese schreckliche Nacht nicht auf sie gehabt haben? Wie konnte Dieter einer Frau vertrauen, die jetzt nur so lose an ihn gebunden war? Der gute Ruf ihres Mannes konnte nicht mehr gerettet werden. Bestand nicht die Gefahr, daß sie, in weiß Gott was für einem Anfall von Rachsucht oder Reue, mit der ganzen Wahrheit herausplatzte? Sicher, zwischen dem Mord an Fennan und dem an seiner Frau mußte man eine gewisse Zeit verstreichen lassen, aber welches Ereignis oder welche Nachricht, welche Gefahr war der Anlaß zu Mundts Abreise gestern abend? Ein skrupelloser und genau ausgearbeiteter Plan zur Bewahrung des Geheimnisses von Fennans Verrat war jetzt offenbar verworfen und unausgeführt gelassen worden. Was war gestern geschehen, wovon Mundt Kenntnis bekommen haben konnte? Oder war der Zeitpunkt seiner Abreise einem Zufall zuzuschreiben? Smiley weigerte sich, das zu glauben. Wenn Mundt nach den zwei Morden und dem Attentat auf Smiley in England blieb, so war das nicht freiwillig geschehen. Er hatte auf irgendeine Gelegenheit oder ein Ereignis gewartet, das ihm die Möglichkeit gab, zu verschwinden. Er war sicher nicht einen Augenblick länger als notwendig geblieben. Aber was hatte er seit Scarrs Tod getan? Hatte er sich in irgendeinem einsamen Zimmer versteckt, verkrochen, ohne Licht und ohne Verbindungen? Und warum war er dann so plötzlich abgeflogen?

Und Fennan wieder - was für ein merkwürdiger Spion war das, der wertlose Nichtigkeiten für seine Auftraggeber aussuchte, während er die kostbarsten Juwelen in Reichweite hatte und nur hätte zugreifen müssen? Eine Gesinnungsänderung vielleicht? Warum hat er es dann nicht seiner Frau gesagt, für die sein Verbrechen ein ewiger Alptraum war und die über seine Bekehrung gejubelt hätte? Es sah so aus, als hätte Fennan nie vorzügliches Geheimmaterial ausgesucht, als hätte er einfach das mit nach Hause genommen, an dem er gerade arbeitete. Ein Nachlassen im Eifer würde die merkwürdige Einladung zu Marlow und Dieters Überzeugung, daß Fennan ihn betrog, erklären können. Und wer hatte den anonymen Brief geschrieben?

Nichts paßte zusammen, rein gar nichts. Auch Fennan selbst war voller Widersprüche. Ein so prächtiger, intelligenter und anziehender Mensch er auch war, hatte er völlig ungezwungen und geschickt Verrat begangen. Smiley hatte ihn wirklich gut leiden können. Warum hatte dieser erfahrene Verräter den unglaublichen Fehler begangen, Dieters Namen in sein Notizbuch zu schreiben, warum hatte er so wenig Verstand oder Interesse bei der Auswahl des Materials gezeigt?

Smiley ging hinauf, um die verschiedenen Kleinigkeiten, die Mendel ihm aus der Bywater Street geholt hatte, einzupacken. Es war alles aus.

Die Figurengruppe aus Meißener Porzellan

 

Er stand an der Tür, stellte seinen kleinen Koffer hin und tastete nach den Schlüsseln. Als er die Tür aufmachte, erinnerte er sich daran, wie Mundt dort gestanden war und ihn mit seinen fahlblauen Augen fest und abschätzend angesehen hatte. Es war merkwürdig, sich vorzustellen, daß Mundt Dieters Schüler war. Mundt war mit der Unerbittlichkeit eines abgerichteten, gedungenen Söldners vorgegangen - schlagkräftig, zweckmäßig und stur. An seiner Technik war nichts Originelles, in allem war er ein Schatten seines Meisters gewesen. Es kam ihm vor, als wären Dieters brillante und einfallsreiche Methoden in ein Handbuch zusammengefaßt worden, das Mundt auswendig gelernt und dem er nur das Salz seiner eigenen Brutalität hinzugefügt hatte.

Smiley hatte absichtlich keine Adresse für das Nachsenden seiner Post angegeben, und daher lagen ganze Haufen von Briefen auf der Abstreifmatte. Er legte sie auf den Tisch im Vorzimmer und begann mit einem verlorenen Lächeln die Türen zu öffnen und sich umzusehen. Das Haus war ihm fremd. Er fand es kalt und muffig. Als er langsam durch die Zimmer schritt, dämmerte ihm zum erstenmal auf, wie leer sein Leben geworden war.

Er sah sich nach Streichhölzern um, weil er den Gaskamin anzünden wollte, aber er fand keine.

Er setzte sich in einen Lehnsessel im Wohnzimmer, und seine Augen wanderten über die Bücherregale und die verschiedenen Sachen, die er auf seinen Reisen gesammelt hatte. Als Ann ihn verließ, hatte er unbarmherzig alle ihre Spuren getilgt. Sogar ihrer Bücher hatte er sich entledigt. Aber nach und nach waren die wenigen symbolischen Dinge, die sein Leben mit dem ihren verknüpft hatten, wieder zu Ehren gekommen. Hochzeitsgeschenke von engen Freunden, die zuviel bedeutet hatten, als daß man sie hätte weggeben können. Da war eine Skizze von Watteau, ein Geschenk von Peter Guillam, eine Figurengruppe aus Meißener Porzellan von Steed-Asprey.

Er erhob sich aus dem Stuhl und ging hinüber zu dem Eckschrank, wo die Gruppe stand. Er liebte es, die Schönheit dieser Figuren zu bewundern, die kleine Kurtisane im Schäferkostüm, die die Arme nach einem verliebten Bewunderer ausgestreckt hatte, während ihr kleines Gesicht einem anderen zulächelte. Vor dieser zerbrechlichen Vollkommenheit kam er sich so unzulänglich vor wie einst vor Ann, als er damals die Eroberung begann, die die Gesellschaft in Erstaunen gesetzt hatte. Irgendwie trösteten ihn diese kleinen Figuren. Es war ebenso hoffnungslos, von Ann Treue zu erwarten, wie von dieser kleinen Schäferin unter ihrem Glassturz. Steed-Asprey hatte die Gruppe vor dem Krieg in Dresden gekauft, sie war das Glanzstück seiner Sammlung gewesen, und er hatte sie ihnen geschenkt. Vielleicht hatte er vorausgeahnt, daß Smiley eines Tages für die einfache Weisheit Bedarf haben könnte, die sie dem Betrachter suggerierte.