Smiley war nun schon zu alt, um ins Ausland zu gehen, das hatte ihm Maston klargemacht: »Auf jeden Fall, mein lieber Freund, sind Sie ziemlich fertig nach der Hetzjagd während des Krieges. Bleiben Sie lieber zu Hause, alter Freund, und schüren Sie die heimatlichen Feuer.«
Alles das erklärt ein wenig, warum George Smiley am Mittwoch, dem 4. Januar, um zwei Uhr nachts im Fond eines Londoner Taxis saß und auf dem Wege nach Cambridge Circus war.
Keine Ruh' bei Tag und Nacht
In dem Taxi fühlte er sich sicher. Sicher und warm. Und zwar war die Wärme Konterbande, die er aus dem Bett mitgeschmuggelt und gegen die Kälte der nassen Januarnacht aufgespeichert hatte. Sicher fühlte er sich deshalb, weil die Situation unrealistisch war. Es war sein Geist, der durch die Straßen Londons wanderte und von ihren unglücklichen Vergnügungssuchern Notiz nahm, die unter den Regenschirmen der Türsteher zu ihren Taxis trippelten, und von den galanten jungen Damen, die wie zu Geschenkzwecken in Polyvinyl verpackt waren. Es war sein Geist, entschied er, der aus dem Brunnen des Schlafes geklettert war und das neben dem Bett rasselnde Telefon zum Schweigen gebracht hatte . . . Oxford Street. . . Warum war London die einzige Hauptstadt der Welt, die nachts ihre Persönlichkeit verlor? Während Smiley seinen Mantel enger um sich zog, konnte er sich keines Ortes von Los Angeles bis Bern entsinnen, der so bereitwillig den Kampf um seine Identität aufgab.
Das Taxi bog in Cambridge Circus ein, und Smiley setzte sich mit einem Ruck auf. Es fiel ihm ein, warum der Diensthabende angerufen hatte, und diese Erinnerung riß ihn brutal aus seinen Träumen. Er entsann sich des Gespräches Wort für Wort, eine Fähigkeit, die er sich vor langer Zeit erworben hatte.
»Hier ist der diensthabende Beamte, Smiley. Ich verbinde mit dem Chef . . .«
»Smiley, hier ist Maston. Sie haben doch am Montag Samuel Arthur Fennan einvernommen, ist das richtig?«
»Ja ... ja, das stimmt.«
»Um was hat es sich gehandelt?«
»Ein anonymer Brief, in dem er beschuldigt wurde, in Oxford bei der Partei gewesen zu sein. Es war eine Routine-Einvernahme, die der Sicherheitsdirektor angeordnet hatte.«
(Fennan kann sich doch unmöglich beschwert haben, dachte Smiley. Es war doch gar nichts Irreguläres, überhaupt nichts.)
»Sind Sie auf ihn losgegangen? War es feindselig, Smiley, sagen Sie mir das.«
(Gott bewahre, das klingt ja, als ob er Angst hätte. Fennan muß das ganze Kabinett auf uns gehetzt haben.)
»Nein, es war eine besonders freundschaftliche Einvernahme. Ich glaube, daß wir einander sympathisch waren. Aber trotzdem, ich bin in einem Punkt über meinen Auftrag hinausgegangen.«
»Wie denn, Smiley, wie?«
»Ja, ich habe ihm mehr oder weniger gesagt, daß er sich keine Sorgen machen soll.«
»Wie bitte?«
»Ich sagte ihm, er solle sich keine Sorgen machen. Er war sichtlich ziemlich aufgeregt, deshalb habe ich das gesagt.«
»Was haben Sie ihm gesagt?«
»Ich sagte, ich hätte keinen Einfluß und auch der Dienst nicht. Aber ich könnte keinen Grund dafür sehen, daß wir ihn weiter belästigen sollten.«
»Ist das alles?«
Smiley schwieg einen Augenblick. So hatte er Maston noch nie kennengelernt und sich selbst noch nie so abhängig gefühlt.
»Ja, das ist alles, absolut alles.« (Das wird er mir nie vergeben. Die ganze wohl einstudierte Gemessenheit, die cremefarbenen Hemden und silbergrauen Krawatten, seine smarten Dejeuners mit Ministern waren beim Teufel.)
»Er behauptet, daß Sie seine Loyalität in Zweifel gezogen haben, daß seine Karriere im Außenamt ruiniert ist, daß er das Opfer von bezahlten Denunzianten ist.«
»Was sagt er? Er muß ja vollständig übergeschnappt sein. Er weiß doch ganz genau, daß wir keinen Verdacht gegen ihn haben. Was will er denn noch?«
»Nichts. Er ist tot. Heute abend um 10 Uhr 30 hat er sich umgebracht. Und einen Brief für den Außenminister hinterlassen. Die Polizei hat einen von den Sekretären angerufen und die Erlaubnis bekommen, ihn aufzumachen. Dann haben sie uns verständigt. Es wird eine Untersuchung geben. Sie sind Ihrer Sache doch sicher, Smiley, nicht wahr?«
»Sicher? Warum?«
». . . schon gut. Kommen Sie so schnell wie möglich her.«
Es hatte endlos gedauert, bis er ein Taxi bekam. Bei drei Standplätzen hatte er angerufen, ohne daß sich jemand meldete. Endlich reagierte der Standplatz Sloane Square, und Smiley wartete in seinen Mantel gehüllt am Fenster seines Schlafzimmers, bis er den Wagen vorfahren sah. Diese unwirkliche Beklemmung in der Stille der Nacht erinnerte ihn an die Luftangriffe in Deutschland.
Bei Cambridge Circus ließ er den Wagen hundert Meter vom Amt entfernt halten, teils aus alter Gewohnheit, teils, um sich vor dem zu erwartenden fieberhaften Frage-und-Antwort-Spiel mit Maston einen klaren Kopf zu schaffen.
Er wies dem diensthabenden Polizisten seine Legitimation vor und ging langsam zum Lift.
Als er ausstieg, begrüßte ihn der Diensthabende voll Erleichterung, und sie gingen zusammen den hellen cremefarbenen Korridor entlang.
»Maston ist in Scotland Yard, um mit Sparrow zu reden. Es gibt ein Tauziehen darum, welche Abteilung der Polizei den Fall behandeln soll. Sparrow sagt, die Sonderabteilung, Evelyn sagt C.I.D., und die Polizei von Surrey weiß nicht, wo ihr der Kopf steht. Eine peinliche und verwickelte Angelegenheit. Kommen Sie mit und trinken Sie eine Tasse Kaffee in der Ehrenhalle des Diensthabenden. Er ist aus der Thermosflasche, aber ganz gut.«
Smiley war froh, daß gerade an diesem Abend Peter Guillam Dienst hatte. Er war ein kultivierter und zuvorkommender Mann, der sich auf Satelliten-Spionage spezialisiert hatte, ein Mann von der Art der freundlichen Geister, die immer ein Taschenmesser und einen Fahrplan bei der Hand haben.
»Die Sonderabteilung hat um o Uhr 5 angerufen. Fennans Frau war ins Theater gegangen und fand ihn erst, als sie um dreiviertel elf allein zurückkam. Sie hat dann schließlich die Polizei angerufen.«
»Er hat irgendwo in Surrey gewohnt?«
»Ja, in Walliston, an der Nebenstraße nach Kingston. Nur ein kleines Stück außerhalb des eigentlichen Stadtgebietes. Als die Polizei eintraf, fand sie neben der Leiche auf dem Boden einen Brief an den Außenminister. Der Inspektor rief den Polizeidirektor an, und der wieder den Diensthabenden im Innenministerium, der sich mit dem Außenministerium in Verbindung setzte, und schließlich bekam die Polizei die Bewilligung, den Brief zu öffnen. Und dann ist der Tanz losgegangen.«
»Was weiter?«
»Dann hat uns der Personalchef angerufen. Er wollte die Privatnummer von Maston. Er hat gesagt, das ist das letzte Mal, daß der Sicherheitsdienst an seinem Personal herumfingert, daß Fennan ein begabter und loyaler Beamter gewesen sei, qua, qua, qua . . .«
»Das war er auch, ganz bestimmt!«
»Dann sagte er noch, diese ganze Affäre beweise schlagend, daß niemand den Sicherheitsdienst am Zügel habe - Gestapo-Methoden, die nicht einmal durch eine echte Gefahr entschuldigt werden könnten . . . qua, qua, qua . . . Ich habe ihm Mastons Nummer gegeben und wählte sie auf dem anderen Apparat, während er weitertobte. Durch diesen Geniestreich wurde ich das Außenministerium auf der einen Leitung los, während ich auf der anderen Verbindung mit Maston bekam und ihm die Neuigkeit brühwarm durchgab. Das war um null Uhr zwanzig. Maston kam hier um ein Uhr an, sozusagen hochschwanger - morgen früh wird er dem Minister Bericht erstatten müssen.«
Sie schwiegen einen Augenblick. Guillam goß Kaffee in die Tassen und gab aus einem elektrischen Kocher heißes Wasser dazu.
»Wie war er denn?« fragte er.
»Wer? Ach so, Fennan. Ja, bis gestern abend hätte ich Ihnen das sagen können. Aber jetzt ist er mir ein Rätsel. Dem Aussehen nach offenbar ein Jude. Aus einer orthodoxen Familie, aber das hat er alles in Oxford über Bord geworfen und ist Marxist geworden. Weitblickend, kultiviert... ein vernünftiger Mensch. Spricht sanft, ein guter Zuhörer. Bei alldem gebildet. Sehr vielseitig, verstehen Sie. Wer auch immer es war, der ihn denunziert hat, er hatte recht. Er war nämlich tatsächlich bei der Partei.«