Dresden! Das war von allen deutschen Städten Smileys Lieblingsstadt. Er liebte ihre Architektur, das merkwürdige Durcheinander von mittelalterlichen und klassischen Bauten, die manchmal an Oxford mit seinen Kuppeln, Türmen und Spitzen erinnerten, und seine grünen Kupferdächer, die in der heißen Sonne flimmerten. Der Name bedeutete »Stadt der Waldbewohner«, dort hatte Wenzel von Böhmen die fahrenden Sänger mit Geschenken und Privilegien ausgezeichnet. Smiley erinnerte sich daran, wie er das letztemal dort gewesen war und einen Bekannten von der Universität, einen Professor der Philologie, besucht hatte, mit dem er in England zusammengekommen war. Auf dieser Reise hatte er damals Dieter gesehen, wie er sich im Gefängnishof im Kreis herumschleppte. Er konnte ihn noch immer vor sich sehen; groß und verbissen und durch den geschorenen Schädel grotesk verändert, schien er irgendwie zu groß für das kleine Gefängnis zu sein. Dresden, fiel ihm ein, war übrigens auch Elsas Geburtsort gewesen, wie er festgestellt hatte, als er ihren Akt im Ministerium durchgesehen hatte: Elsa, Mädchenname Freimann, geboren 1917 in Dresden, Deutschland, Kind deutscher Eltern; in Dresden erzogen; 1938 bis 1945 im KZ. Er versuchte, sie vor dem Hintergrund ihres Elternhauses zu sehen, sich die jüdische Patrizierfamilie vorzustellen, die unter Drangsalen und Verfolgungen zugrunde ging. >Ich habe von langem goldenem Haar geträumt, und sie haben mir den Kopf geschoren.< Angeekelt verstand er völlig, warum sie sich das Haar färbte. Sie hätte sein können wie diese kleine Schäferin, hochbusig und hübsch. Aber ihren Körper hatte Hunger zerstört, so daß er jetzt gebrechlich und häßlich war wie der eines kleinen Vogels.
Er konnte sie sich in der furchtbaren Nacht vorstellen, wie sie den Mörder ihres Mannes neben der Leiche stehend angetroffen hatte, konnte im Geiste ihre atemlose, schluchzende Erklärung hören, warum Fennan mit Smiley im Park gewesen war, und Mundt vor sich sehen, der ungerührt auf sie einredete, ihr die Gründe auseinandersetzte und sie endlich dazu bewog, gegen ihren Willen noch einmal an diesem schrecklichsten und unsinnigsten aller Verbrechen teilzuhaben. Wie er sie zum Telefon schleppte und zwang, das Theater anzurufen, und sie schließlich zermartert und erschöpft zurückließ. Mit den unausweichlichen Nachforschungen mochte sie selber fertig werden. Ja sogar den Abschiedsbrief über Fennans Unterschrift hatte er sie zu schreiben gezwungen. Es war über alle Maßen unmenschlich und, dachte er weiter, für Mundt ein ungeheueres Risiko.
Sie hatte sich natürlich andererseits in der Vergangenheit als eine äußerst verläßliche Komplizin erwiesen, die einen kühlen Kopf hatte und ironischerweise in der Technik der Spionage geschickter war als Fennan. Und ihre Leistung bei ihrem ersten Zusammentreffen mit ihm war für eine Frau, die in dieser Nacht so viel Schreckliches durchgemacht hatte, einfach ein Wunder.
Als er so die kleine Schäferin betrachtete, die in unveränderlich schwebender Pose zwischen ihren beiden Bewunderern stand, kam ihm ganz leidenschaftslos der Gedanke, daß es noch eine zweite, ganz andersgeartete Lösung für den Fall Fennan gab. Eine Lösung, die bis ins Detail zu allen Umständen paßte und die irritierenden, scheinbaren Widersprüche in Fennans Charakter zum Verschwinden brachte. Es begann als rein akademische Denkübung, die Personen nicht in Betracht zog. Smiley schob die einzelnen Charaktere wie die Teile eines Zusammenlegspiels hin und her und drehte sie bald in der einen, bald in der anderen Richtung, um zu versuchen, wie sie zu dem schon fertigen Stück der erhärteten Tatsachen paßten - und dann, ganz plötzlich, fügte sich alles zusammen, und zwar so genau, daß ihm klar wurde, daß es jetzt nicht mehr nur ein Spiel mit Gedanken war.
Sein Herz schlug schneller, als Smiley sich die ganze Geschichte noch einmal aufbaute, Szenen und Ereignisse im Lichte seiner Entdeckung rekonstruierte. Jetzt wußte er, warum Mundt England heute verlassen hatte, warum Fennan so wenig gebracht hatte, das für Dieter von Wert war, den Anruf um halb neun bestellt hatte und warum seine Frau der systematischen, wilden Mordorgie Mundts entgangen war. Jetzt wußte er endlich auch, wer den anonymen Brief geschrieben hatte. Er erkannte nun, daß er sich von seinen Gefühlen hatte zum Narren halten lassen, mit seinem Verstand ein falsches Spiel getrieben hatte.
Er ging zum Telefon und wählte Mendels Nummer. Gleich nachdem er mit ihm gesprochen hatte, rief er Peter Guillam an. Dann nahm er Hut und Mantel und ging um die Ecke auf den Sloane Square. Bei einem kleinen Zeitungsstand kaufte er eine Ansichtskarte, die die Westminster Abbey darstellte, ging zur U-Bahn und fuhr nach dem Norden, wo er in Highgate ausstieg. Auf dem Hauptpostamt dort kaufte er eine Marke und adressierte die Karte in steifen, unenglischen Buchstaben an Elsa Fennan. Auf den Platz für den Text schrieb er in spitzen Buchstaben: »Ich wünschte, Du wärest hier!« Er gab die Karte auf, notierte sich die Zeit und fuhr zum Sloane Square zurück. Mehr konnte er im Augenblick nicht tun.
In dieser Nacht schlief er fest, stand am folgenden Morgen zeitig auf - es war ein Samstag -, ging um die Ecke und kaufte frische Brötchen und Kaffee. Er machte sich eine große Portion Kaffee, setzte sich mit der >Times< in die Küche und verzehrte sein Frühstück. Er fühlte sich merkwürdig ruhig, und als endlich das Telefon läutete, faltete er seine Zeitung sorgfältig zusammen, bevor er hinaufging, um den Hörer abzuheben.
»George, ich bin's, Peter.« Die Stimme klang dringlich, fast triumphierend. »George, sie hat angebissen, da schwöre ich drauf!«
»Was ist passiert?«
»Genau um 8 Uhr 55 war der Briefträger da. Um 9 Uhr 30 ist sie eilig den Weg vom Haus heruntergekommen, gestiefelt und gespornt. Sie ist direkt zur Bahnstation gegangen und mit dem Zug um 9 Uhr 5 z zur Victoria-Station gefahren. Ich habe Mendel in den Zug gesetzt und bin mit dem Wagen nachgefahren, aber ich war zu spät dran, um den Zug einzuholen.«
»Wie werden Sie sich denn mit Mendel wieder in Verbindung setzen?«
»Ich habe ihm die Nummer von dem Hotel in Grosvenor gegeben, wo ich jetzt bin. Er wird mich sofort anrufen, sobald er dazu Gelegenheit hat, und dann werde ich dorthin kommen, wo er ist.«
»Peter, Sie fassen die Sache doch vorsichtig an, nicht wahr?«
»Wie mit Glacehandschuhen, alter Junge. Ich glaube, sie beginnt den Kopf zu verlieren. Rennt wie ein Windhund.«
Smiley legte den Hörer auf. Er nahm wieder seine >Times< und studierte das Theaterprogramm. Er mußte recht haben . . . unbedingt.
Der Vormittag verging dann mit nervtötender Langsamkeit. Manchmal stand er mit den Händen in den Hosentaschen am Fenster und sah zu, wie die schlaksigen Mädchen aus Kensington in Begleitung wunderschöner junger Männer in hellblauen Pullovern einkaufen gingen oder wie die kleine Brigade von Wagenwaschern zuerst fröhlich vor den Häusern drauflos arbeitete, dann eine Weile herumstand, um über Autos zu tratschen, und schließlich zielbewußt die Straße hinunter verschwand, um sich die erste Pulle Bier an diesem Wochenende zu genehmigen.
Endlich, nach einer Ewigkeit, wie es ihm vorkam, wurde an der Eingangstür geläutet, und Mendel und Guillam kamen herein. Sie grinsten und waren hungrig wie die Raben.
»Wir haben's geschafft«, sagte Guillam. »Aber Mendel soll erzählen. Er hat ja die meiste Plage gehabt. Ich bin nur gerade noch zum Halali zurechtgekommen. «
Mendel berichtete seine Geschichte haargenau und mit allen Details, wobei er, den Kopf leicht zur Seite geneigt, vor sich hin sah.
»Sie ist mit dem Zug weg, der um 9 Uhr 52 nach Victoria-Station fährt. Im Zug habe ich mich unsichtbar gemacht und bin ihr nach, wie sie durch die Sperre ist. Dann hat sie ein Taxi nach Hammersmith genommen.«