»Und dann einen kleinen Whisky mit Soda, bitte. Wollen Sie selbst einen haben?«
»Danke sehr, mein Herr, ich rühre so etwas nie an.«
Der Vorhang ging vor einer schwach erleuchteten Bühne hoch, und Guillam, der verstohlen nach hinten in den Zuschauerraum sah, versuchte zuerst ohne Erfolg, die plötzliche Dunkelheit zu durchdringen. Langsam gewöhnten sich seine Augen an das spärliche Licht, das die Lampen der Notbeleuchtung verbreiteten, und endlich konnte er in dem schwachen Schimmer Elsa erkennen. Und den noch immer leeren Platz neben ihr.
Von dem Gang, der längs der Hinterseite des Zuschauerraumes verlief, waren die Parkettsitze nur durch eine niedrige Wand getrennt. Dort befanden sich Türen, die zur Bar, dem Foyer und den Garderoben führten. Einen kurzen Augenblick ging eine dieser Türen auf, und ein schräger Lichtstrahl traf Elsa Fennan, als geschähe es mit Absicht. Er beleuchtete in einer schmalen Linie die eine Seite ihres Gesichtes, wobei durch den Kontrast die Schatten ihrer Züge schwarz erschienen. Sie beugte den Kopf ein wenig, als ob sie auf etwas horche, erhob sich halb von ihrem Sitz, setzte sich wieder hin, als hätte sie sich getäuscht, und verharrte in ihrer früheren Stellung.
Guillam fühlte Mendels Hand auf seinem Arm, drehte sich zu ihm und bemerkte, daß sein hageres Gesicht vorgeneigt war und an ihm vorüberschaute. Dem Blick Mendels folgend, sah er auf die Treppen am Eingang hinunter, wo eine hohe Gestalt langsam zu den Parkettsitzen ging. Der Mann bot einen eindrucksvollen Anblick. Er war groß und schön, und in der Stirn hing ihm eine schwarze Locke. Dieser elegante Riese, der da den Gang hinaufhinkte, war es, den Mendel so fasziniert beobachtete. Es war etwas Ungewöhnliches an ihm, etwas Fesselndes und Verwirrendes. Guillam verfolgte durch sein Glas, wie er langsam und entschlossen weiterging, und er bewunderte die Grazie und die Gemessenheit seines ungleichmäßigen Ganges. Es war ein besonderer Mann, einer, an den man sich erinnert, ein Mann, der in unserem Innersten eine Saite zum Schwingen bringt, einer, der überall die Situation zu beherrschen wußte. Guillam kam er wie das lebendige Ebenbild aller unserer Träume vor, er stand am Mast mit Conrad, fand mit Byron das verlorene Griechenland, besuchte mit Goethe die Schatten der klassischen und mittelalterlichen Unterwelten.
In der Art, wie er sein gesundes Bein nach vorn warf, lag ein Trotz und eine Beherrschung, die man nicht übersehen konnte. Guillam beobachtete, wie die Leute im Zuschauerraum nach ihm die Köpfe umdrehten und wie ihm Augen gehorsam folgten.
Guillam drückte sich an Mendel vorbei und ging schnell durch den daneben befindlichen Notausgang hinaus auf den Korridor, der dahinter lag. Er folgte dem Gang und kam schließlich über einige Stufen in das Foyer. Die Kasse hatte schon zu, aber das Mädchen brütete noch über einem Blatt voll mühselig zusammengestellter Zahlen, von denen viele ausgebessert oder durchgestrichen waren.
»Entschuldigen Sie bitte«, sagte Guillam, »aber ich muß rasch Ihr Telefon benutzen. Es ist sehr dringend. Darf ich?«
»Psch!« Sie winkte ihm ohne aufzusehen ungeduldig mit dem Bleistift. Ihr Haar war unansehnlich, ihre fette Haut glänzte als Folge der Ermüdung später Abende und einer Diät, die wohl aus Kartoffelchips bestand. Guillam wartete einen Moment. Wie lange es wohl dauern würde, bis sie eine Lösung für das Durcheinander von spinnenhaften Zahlen gefunden hatte, die zu dem Haufen von Noten und Silbergeld in der offenen Handkasse neben ihr paßten.
»Hören Sie zu«, drängte er. »Ich bin Polizeibeamter - da sind ein paar Helden oben, die hinter Ihrer Kasse her sind. Wollen Sie mich also zum Telefon lassen?«
»O Gott«, sagte sie mit müder Stimme und sah ihn zum erstenmal an. Sie trug Augengläser und war sehr häßlich. Sie war weder erschrocken noch beeindruckt. »Das wäre mein größter Wunsch, daß sie das Geld nähmen. Es treibt mich schon die Wände hoch.« Sie schob ihren Abrechnungszettel zur Seite, öffnete eine Tür neben der kleinen Zelle, und Guillam drückte sich hinein.
»Nicht sehr komfortabel, nicht wahr?« sagte das Mädchen und verzog den Mund. Ihre Stimme klang fast kultiviert - wahrscheinlich eine Londoner Studentin, die sich ein Taschengeld verdient, dachte Guillam. Er rief das Hotel Clarendon an und verlangte Mr. Savage. Fast unmittelbar darauf hörte er Smileys Stimme.
»Er ist da«, sagte Guillam. »Die ganze Zeit hier gewesen. Muß sich noch ein zweites Billett gekauft haben. Er ist vorne im Parkett gesessen. Mendel hat ihn plötzlich bemerkt, wie er den Gang hinaufhinkte.«
» Hinkte?«
»Ja, es ist nicht Mundt, es ist der andere, Dieter.«
Smiley antwortete nicht, und nach einer Weile sagte Guillam: »George, sind Sie noch da?«
»Wir sitzen in der Patsche, fürchte ich, Peter. Wir haben nichts gegen Frey vorzubringen. Lassen Sie Ihre Leute nach Hause gehen. Sie werden Mundt heute abend nicht finden. Ist der erste Akt schon vorbei?«
»Es muß gleich Pause sein.«
»Ich bin in zwanzig Minuten drüben. Passen Sie wie der Teufel auf Elsa auf - und wenn sie weggehen und sich trennen, dann soll Mendel sich an Dieter anhängen. Während des letzten Aktes stellen Sie sich im Foyer auf, für den Fall, daß sie früher weggehen.«
Guillam legte den Hörer in die Gabel und wandte sich dem Mädchen zu. »Danke«, sagte er und legte vier Pennies auf ihren Tisch. Sie sammelte sie rasch zusammen und drückte sie ihm in die Hand.
»Um Gottes willen«, sagte sie, »machen Sie mein Unglück nicht noch größer.«
Er ging hinaus auf die Straße und sprach mit einem Kriminalbeamten in Zivil, der auf dem Gehsteig herumbummelte. Dann eilte er zurück ins Theater und kam zu Mendel zurück, gerade als der Vorhang nach dem ersten Akt fiel.
Elsa und Dieter saßen Seite an Seite. Sie redeten ganz fröhlich miteinander, Dieter lachte, Elsa war animiert und gesprächig wie eine Marionette, die ihr Meister zum Leben erweckt hatte. Mendel beobachtete sie fasziniert. Sie lachte über irgend etwas, das Dieter gesagt hatte, beugte sich vor und legte ihre Hand auf seinen Arm. Er sah ihre dünnen Finger auf dem Ärmel seines Smokings und bemerkte, wie Dieter den Kopf neigte und ihr etwas zuflüsterte, das sie wieder zum Lachen brachte. Während Mendel ihnen so zusah, wurde die Beleuchtung langsam schwächer, und das Reden des Publikums verstummte in der Erwartung des zweiten Aktes.
Smiley verließ das Hotel Clarendon und ging langsam auf dem Gehsteig dem Theater zu. Wenn er jetzt darüber nachdachte, leuchtete es ihm ein: Es war nur logisch, daß Dieter gekommen war. Mundt zu schicken wäre ja heller Wahnsinn gewesen. Wie lange wohl Elsa und Dieter brauchen würden, um daraufzukommen, daß es nicht Dieter war, der sie gerufen hatte, nicht Dieter, der die Postkarte durch einen vertrauten Kurier geschickt hatte. Das wird ein interessanter Moment sein. Er wünschte sich aus ganzer Seele die Gelegenheit zu noch einem Gespräch mit Elsa Fennan.
Wenige Minuten später ließ er sich ruhig auf dem leeren Sitz neben Guillam nieder. Es war lange her, daß er Dieter gesehen hatte.
Er hatte sich nicht verändert. Er war noch immer derselbe unwahrscheinliche Romantiker mit dem Zauber eines Scharlatans, dieselbe unvergeßliche Gestalt, die in den Ruinen Deutschlands gekämpft hatte, unerbittlich am Ziel festhaltend, satanisch in den Mitteln, dunkel und schnell wie die Götter des Nordens. Smiley hatte ihnen damals an dem Abend in seinem Klub nicht die Wahrheit gesagt. Dieter war tatsächlich ohne Maß. Seine Schlauheit, seine Ideen, seine Stärke und seine Träume - alles war größer als das Leben selbst und nicht durch den mäßigenden Einfluß der Erfahrung gemildert. Er war ein Mann, der nur in absoluten Begriffen dachte und handelte, ein Mann ohne Geduld oder Kompromißbereitschaft.
Wie Smiley an diesem Abend so in dem dunklen Theater saß und Dieter über die Masse der bewegungslosen Köpfe hin beobachtete, kamen ihm Erinnerungen an frühere Zeiten. Erinnerungen an gemeinsam bestandene Gefahren, an gegenseitiges Vertrauen, als damals jeder das Leben des andern in der Hand gehalten hatte . . . Einen kurzen Augenblick lang dachte Smiley fast, Dieter hätte ihn gesehen, hatte er das Gefühl, daß Dieters Augen auf ihn gerichtet wären und ihn im Halbdunkel beobachteten.