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Als sie sich einer Hauptstraße näherten, hörte Mendel wieder das klägliche Gewinsel des Verkehrs, der durch den Nebel fast zum Stillstand gekommen war. Dann warf von irgendwoher aus dem Nichts ein gelbes Straßenlicht, wie eine Aureole der Wintersonne mit klaren Konturen, einen fahlen Schein. Dieter zögerte einen Augenblick am Straßenrand, und dann, ohne Rücksicht auf den Verkehr, der sich aus dem Nichts an ihnen vorübertastete, überschritt er die Straße und stürzte sich sofort in eine der unzähligen Gassen, die, dessen war Mendel sicher, zum Fluß führten.

Mendels Kleider waren triefend naß, und der feine Regen rann ihm über das Gesicht. Jetzt mußten sie ganz nahe am Fluß sein, denn er konnte den Geruch von Teer und Koks, die heimtückische Kälte des offenen Wassers wahrnehmen. Einen Moment lang dachte er, Dieter wäre verschwunden. Er beschleunigte seine Schritte, stolperte über einen Randstein, rannte weiter und sah das Geländer des Themsekais vor sich. Stufen führten zu einem eisernen Tor im Geländer, das halb offenstand. Er stand an dem Durchgang und sah nach unten ins Wasser. Eine starke Holztreppe führte hinunter, und Mendel hörte das ungleichmäßige Echo von Dieters Schritten, der, durch den Nebel verborgen, seinen merkwürdigen Weg hinunter zum Wasser fortsetzte. Mendel wartete zuerst und ging dann vorsichtig und leise die Holztreppe hinab. Sie war solide gebaut, mit einem starken Holzgeländer beiderseits. Sie war wohl schon ziemlich alt, dachte Mendel. Unten war ein langer schwimmender Steg aus Öltonnen und Planken an der Treppe befestigt. Man konnte drei verwahrloste alte Hausboote durch den Nebel erkennen, die sanft in ihren Vertäuungen schaukelten.

Lautlos schlich sich Mendel auf den Steg und sah sich die Hausboote der Reihe nach genau an. Zwei lagen knapp nebeneinander und waren durch eine Planke verbunden. Das dritte lag etwa fünf Meter weiter vertäut, und in der Kabine vorne brannte ein Licht. Mendel kehrte zum Kai zurück und schloß das Tor sorgfältig hinter sich.

Langsam ging er die Straße entlang. Er wußte noch immer nicht genau, wo er war. Nach ungefähr fünf Minuten bog der Gehsteig plötzlich nach links ab und begann leicht anzusteigen. Er vermutete, daß er auf einer Brücke war. Er entzündete sein Feuerzeug, und die lange Flamme beleuchtete eine Steinmauer zu seiner Rechten. Er bewegte das Feuerzeug hin und her und sah endlich eine nasse, schmutzige Messingplatte, auf der »Battersea Bridge« stand. Dann ging er zum Eisentor zurück, blieb einen Augenblick lang stehen und orientierte sich nach der Erinnerung.

Irgendwo rechts über ihm mußten die vier großen Schornsteine des E-Werkes von Fulham im Nebel verborgen sein: Linker Hand war die Cheyne Walk mit der Reihe von kleinen eleganten Booten, die bis Battersea Bridge reichte. Der Platz, an dem er stand, markierte die Trennungslinie zwischen dem Eleganten und dem Dreckigen, dort, wo die Cheyne Walk auf die Lots Road trifft, eine der scheußlichsten Straßen in ganz London. Die Südseite dieser Straße bilden Lagerhäuser, Werften und Fabriken, während die Nordseite aus einer ununterbrochenen Reihe von schwarzen schmutzigen Häusern besteht, wie sie für die Seitenstraßen von Fulham typisch sind.

Im Schatten der vier Schornsteine, vielleicht zwanzig Meter vom Anlegeplatz an der Cheyne Walk entfernt, hatte also Dieter einen Unterschlupf gefunden. Ja, Mendel kannte den Platz gut. Nur ein paar hundert Meter weiter den Fluß hinauf hatte man die irdischen Überreste von Mr. Adam Scarr aus den nassen Fluten der Themse geborgen.

Echo im Nebel

 

Es war schon lange nach Mitternacht, als Smileys Telefon läutete. Er stand aus dem Lehnstuhl auf, den er sich vor den Gaskamin gerückt hatte, und ging mühsam die Stiege hinauf, wobei er sich im Gehen mit der rechten Hand fest am Treppengeländer anhielt. Ohne Zweifel war es Peter oder die Polizei, und er würde eine Aussage machen müssen. Vielleicht war es sogar die Presse. Der Mord hatte zu einem Zeitpunkt stattgefunden, daß er gerade noch in die heutigen Zeitungen kommen konnte. Für den Abendbericht im Rundfunk war es ja, Gott sei Dank, zu spät gewesen. Wie würden die Schlagzeilen lauten? »Wahnsinniger mordet im Theater«? oder »Mord durch Würgegriff - das Opfer eine angesehene Dame« ? Er haßte die Presse genauso, wie er die Reklame und das Fernsehen haßte, er haßte diese Massenmedien, die ganzen rücksichtslosen Suggestionsmittel des zwanzigsten Jahrhunderts. Alles, was er liebte, war das Produkt eines ausgeprägten Individualismus. Deshalb haßte er jetzt Dieter und das, wofür er eintrat, stärker als jemals vorher. Es war die unerträgliche Anmaßung, die Masse vor das Individuum zu stellen. Wann hatten Massenphilosophien je Segen oder Erkenntnis gebracht? Dieter kümmerte das menschliche Leben nicht das geringste. Er träumte nur von Armeen gesichtsloser Menschen, die durch ihren kleinsten gemeinsamen Nenner zusammengehalten wurden. Er wollte die Welt so schaffen, als wäre sie ein Baum, den er nach Belieben zustutzen konnte, damit sie dem liniengetreuen Idealbild entspreche. Zu diesem Zweck hatte er sich leere, entseelte Automaten, wie Mundt einer war, geschaffen. Mundt hatte genauso kein Gesicht wie Dieters Armee, er war ein gedrillter Mörder und entstammte der besten Mörderrasse.

Er hob das Telefon ab und nannte seine Nummer. Es war Mendel.

»Wo sind Sie?«

»In der Nähe vom Chelsea Embankment. In einem Gasthaus, das >Der Ballon< heißt, in der Lots Road. Der Wirt ist ein alter Freund von mir. Ich habe ihn herausgeklopft. . . Hören Sie zu, Elsas Freund ist in einem alten Hausboot bei der Getreidemühle in Chelsea in Deckung gegangen. Es ist ein wahres Wunder, wie er sich in diesem Nebel zurechtgefunden hat. Muß irgendwie mit dem Braillesystem seinen Weg ausfindig gemacht haben.«

»Wer?«

»Ihr Freund, ihre Eskorte im Theater. Wachen Sie auf, Mr. Smiley. Was ist los mit Ihnen?«

»Sie sind Dieter nach?«

»Natürlich hab' ich das getan. Das haben Sie doch zu Mr. Guillam gesagt, nicht wahr? Er sollte sich an die Frau halten und ich den Mann übernehmen . . . Wie ist es denn übrigens Mr. Guillam ergangen? Wo ist Elsa hin?«

»Sie ist nirgends mehr hingekommen. Sie war schon tot, wie Dieter weggegangen ist. Mendel, sind Sie noch da? Hören Sie, wo um Gottes willen kann ich Sie finden? Wo ist das? Weiß die Polizei davon?«

»Sie wird es erfahren. Sagen Sie ihr, daß er in einem umgebauten Landungsboot ist, das Sunset Haven heißt. Es liegt auf der Ostseite der Sennen-Werft, zwischen den Getreidemühlen und dem Kraftwerk von Fulham. Sie wird es schon finden . . . aber der Nebel ist dicht, denken Sie daran, der Nebel ist sehr dicht.«

»Wo kann ich Sie denn treffen?«

»Fahren Sie schnurgerade durch bis zum Fluß. Ich werde Sie am nördlichen Ufer der Battersea Bridge erwarten.«

»Ich komme, so schnell ich kann, sobald ich Guillam angerufen habe.«

Irgendwo hatte er ein Schießeisen, und einen Moment lang dachte er daran, es zu suchen. Aber dann kam es ihm irgendwie sinnlos vor. Außerdem, dachte er grimmig, würde der Teufel los sein, wenn er es benutzte. Er rief Guillam in seiner Wohnung an und erzählte ihm, was Mendel berichtet hatte: »Außerdem, Peter, müssen Sie alle Häfen und Flugplätze überwachen. Verfügen Sie, daß der Verkehr auf dem Fluß und alle Schiffe, die auslaufen, besonders bewacht werden. Sie werden schon wissen, wie.«

Er zog einen alten Regenmantel und ein Paar dicke Lederhandschuhe an und ging schnell in den Nebel hinaus.

Mendel erwartete ihn an der Brücke. Sie nickten einander zu, und dann führte ihn Mendel rasch das Embankment entlang, wobei er sich nahe am Fluß hielt, um den Bäumen auszuweichen, die längs der Straße standen. Plötzlich blieb Mendel stehen und ergriff warnend Smileys Arm. Sie rührten sich nicht und horchten. Dann hörte es auch Smiley. Es war das hohle Echo von Schritten auf einem Bretterboden. Es klang unregelmäßig, wie die Schritte eines Hinkenden. Sie hörten das Knarren eines eisernen Tores, das Geräusch, das beim Schließen entstand, und dann wieder die Schritte, die jetzt auf dem Gehsteig fester klangen, lauter wurden und ihnen entgegenkamen. Keiner der beiden rührte sich. Immer lauter und näher klangen sie, dann wurden sie langsamer, und es war ganz still. Smiley hielt den Atem an und versuchte verzweifelt, einen Meter weiter durch den Nebel zu sehen, die verharrende Gestalt wahrzunehmen, von der er wußte, daß sie da war.