Und dann kam er plötzlich wie ein schweres wildes Tier dahergestürmt, brach zwischen ihnen durch, schleuderte sie wie kleine Kinder zur Seite und rannte weiter. Er war wieder verschwunden, und der ungleichmäßige Takt seiner Schritte wurde mit zunehmender Entfernung immer schwächer. Sie drehten sich um und jagten ihm nach, Mendel voran und Smiley hinterher, so gut er konnte. Das Bild, wie Dieter mit der Pistole in der Hand aus dem nächtlichen Nebel auf sie eingedrungen war, stand noch immer lebhaft vor seinen Augen. Vor ihm bog der Schatten Mendels unvermittelt nach rechts ab, und Smiley folgte blindlings. Plötzlich änderte sich der Rhythmus der Schritte zum Stampfen und Scharren eines Handgemenges. Smiley rannte weiter, hörte den unverkennbaren Ton, wenn eine schwere Waffe einen menschlichen Schädel trifft, und dann war er auf dem Kampfplatz. Er sah Mendel am Boden, und Dieter, der sich über ihn beugte, holte gerade aus, um noch einmal mit dem schweren Knauf einer automatischen Pistole zuzuschlagen.
Smiley war außer Atem. Seine Lungen schmerzten ihn von dem kalten schmutzigen Nebel, sein Mund war heiß und trocken und schmeckte nach Blut. Mühsam nach Atem ringend, schrie er verzweifelt: »Dieter!«
Frey sah ihn an, nickte und sagte: »Servus, George«, während er gleichzeitig Mendel einen brutalen Schlag versetzte. Er erhob sich langsam und hielt die Pistole mit beiden Händen nach abwärts, um sie zu spannen.
Smiley stürzte sich blindlings auf ihn. Er vergaß völlig, wie wenig geschickt er mit seinen kurzen Armen immer im Faustkampf gewesen war, wie schlecht er es verstand, mit der offenen Hand zuzuschlagen. Sein Kopf rammte Dieters Brust, er stieß mit aller Kraft nach vorne und trommelte auf Dieters Rücken und Rippen los. Er war völlig außer sich vor Wut, und als er merkte, daß ihm die Raserei Riesenkräfte gab, drückte er Dieter weiter gegen das Geländer der Brücke hin. Dieter hatte das Gleichgewicht verloren und wich, durch sein schwaches Bein behindert, zurück. Smiley wußte, daß Dieter auf ihn losschlug, aber der entscheidende Hieb kam nicht. »Schwein, du Schwein«, schrie er ihm zu, und als Dieter noch weiter zurückwich, bekam Smiley die Arme frei und bearbeitete sein Gesicht jetzt mit ungeschickten, kindlichen Schlägen. Dieter lehnte nach rückwärts, und Smiley sah die klaren Konturen seiner Kehle und seines Kinns, als er mit ganzer Kraft seine offene Hand nach oben stieß. Seine Finger schlossen sich über Dieters Unterkiefer und Mund, und Smiley drückte ihn weiter und weiter zurück.
Dieters Hände waren an Smileys Kehle, und dann klammerten sie sich plötzlich an seinen Kragen, als er einen verzweifelten Versuch machte, sich zu retten, während er langsam nach rückwärts sank. Smiley schlug wie rasend auf seine Arme los, und dann lösten sich die Hände von ihm, und Dieter fiel, fiel in den brodelnden Nebel unter der Brücke. Es war ganz still. Kein Schrei, kein Aufklatschen im Wasser. Er war dahin, dem Nebel Londons und dem schmutzigen schwarzen Fluß darunter wie ein Menschenopfer dargebracht.
Smiley lehnte sich über die Brücke, in seinem Kopf tobte es wild, Blut rann ihm aus der Nase, und die Finger der rechten Hand konnte er nicht gebrauchen. Sie waren anscheinend gebrochen. Seine Handschuhe waren weg. Er blickte in den Nebel hinunter, konnte aber nichts sehen.
»Dieter«, schrie er in der Qual seines Herzens, »Dieter!«
Er rief es noch einmal, aber die Stimme versagte ihm, und er brach in Tränen aus: »Barmherziger Gott, was habe ich getan, ach, mein Jesus, Dieter, warum hast du mich nicht zurückgehalten, warum hast du nicht mit der Pistole zugeschlagen, nicht geschossen?«
Er preßte seine Hände vor das Gesicht und fühlte den Salzgeschmack des Blutes an seinen Handflächen, vermischt mit dem Salz seiner Tränen. Er lehnte sich gegen die Brüstung und weinte wie ein Kind. Irgendwo unter ihm kämpfte ein Krüppel in dem schmutzigen Wasser um sein Leben. Verloren und erschöpft erlag er endlich dem stinkenden Dunkel, das ihn festhielt und hinunterzog.
Als er erwachte, saß Guillam am Fußende seines Bettes und goß Tee ein.
»Da sind Sie ja, George. Willkommen! Es ist zwei Uhr nachmittags.«
»Und heute nacht. . .?«
»Heute nacht haben Sie mit Kamerad Mendel auf der Battersea Bridge Weihnachtslieder gesungen.«
»Wie geht es ihm ... ich meine Mendel?«
»Entsprechend beschämt. Erholt sich aber rasch.«
»Und Dieter . ..?«
»Tot.«
Guillam reichte ihm eine Tasse Tee und einige Ratafia-Kuchen von Fortnums.
»Wie lange sind Sie schon hier, Peter?«
»Ja, also wir sind hergekommen, nachdem wir eine Reihe von taktischen Haken geschlagen hatten. Der erste Seitensprung war in das Spital in Chelsea, wo sie Ihnen die Wunden geleckt und ein recht anständiges Schlafmittel verpaßt haben. Dann sind wir hierher zurück, und ich habe Sie ins Bett gebracht. Das war scheußlich. Dann habe ich eine Menge telefoniert und bin sozusagen mit einer Mistgabel herum und habe Ordnung gemacht. Gelegentlich habe ich nach Ihnen gesehen. Cupido und Psyche könnte man sagen. Sie haben entweder wie ein Sattelrücken geschnarcht oder Webster zitiert.«
»Um Gottes willen!«
»Ich glaube, es war aus >Die Herzogin von Malfi<: >Ich bat dich, als ich ganz von Sinnen war: Geh hin und morde meinen liebsten Freund, und du hast's getan!< Das ist ein entsetzlicher Blödsinn, George.«
»Wie hat uns denn die Polizei gefunden, Mendel und mich?«
»George, Sie werden es vielleicht nicht wissen, aber Sie haben Dieter Schimpfworte zugebrüllt, als ob . . .«
»Ja, natürlich. Sie haben es gehört.«
»Wir haben es gehört.«
»Was ist mit Maston? Was sagt Maston zu dem Ganzen?«
»Ich glaube, er will Sie sehen. Ich soll Ihnen ausrichten, Sie möchten bei ihm vorbeikommen, sobald Sie sich wieder gesund genug fühlen. Ich weiß nicht, was er darüber denkt. Gar nichts, vermute ich.«
»Wie meinen Sie das?«
Guillain goß frischen Tee ein.
»Strengen Sie Ihre Hirnwindungen an, George. Alle drei Hauptpersonen in diesem kleinen Märchen sind jetzt von den Bären aufgefressen worden. In den letzten sechs Monaten sind keine geheimen Dokumente verraten worden. Glauben Sie wirklich, daß Maston sich für die Details interessieren wird? Glauben Sie wirklich, daß er keinen größeren Wunsch hat, als dem Außenamt die frohe Kunde zu bringen - und gleichzeitig zuzugeben, daß wir Spione nur fangen können, wenn wir über ihre Leichen stolpern?«
Es läutete, und Guillam ging hinunter, um aufzumachen. Erstaunt hörte Smiley, wie er den Chef in die Halle führte, dann ein mit leiser Stimme geführtes Gespräch und Schritte, die die Treppe heraufkamen. Es klopfte, und Maston kam herein. Er hatte einen unsinnig großen Blumenstrauß in der Hand und sah aus, als käme er gerade von einer Garden-Party. Smiley erinnerte sich daran, daß Freitag war. Ohne Zweifel ging er zum Wochenende nach Henley. Er grinste. Mußte wohl den ganzen Weg die Treppe herauf gegrinst haben.
»Na, George, wieder auf dem Kriegspfad?«
»Ja, leider. Ich hatte wieder einen Unfall.«
Er setzte sich auf die Bettkante und lehnte sich über das Bett, indem er sich auf der anderen Seite von Smileys Beinen mit einer Hand aufstützte.
Nach einer Pause sagte er: »Sie haben bereits meinen Brief bekommen, George?«