»Wie alt ist er denn?«
»Vierundvierzig. Sieht aber älter aus.« Während seine Augen durch das Zimmer wanderten, sprach Smiley weiter. ». . . ein sensibles Gesicht, eine Mähne von dunklem glattem Haar, wie es die Studenten tragen, das Profil eines Zwanzigjährigen; feine, trockene Haut, ziemlich bleich, auch ziemlich gefurcht, überall Falten, die das Gesicht in Quadrate schneiden. Sehr schlanke Finger . . . ein kompakter Bursche. Eine abgeschlossene, verschlossene Einheit. Vergnügte sich allein und litt auch allein, vermute ich.«
Maston trat ein, und sie erhoben sich.
»Aha, Smiley. Kommen Sie rein.« Er öffnete die Tür und streckte seinen linken Arm aus, um Smiley zuerst eintreten zu lassen.
Mastons Zimmer enthielt nicht ein einziges Möbelstück, das dem Staat gehörte. Er hatte einmal eine Sammlung von Aquarellen aus dem neunzehnten Jahrhundert gekauft, und von dieser hingen einige an den Wänden. Der Rest war von der Stange, entschied Smiley. Übrigens war auch Maston selbst von der Stange. Sein Anzug war eine Spur zu grell, um noch als dezent zu gelten, und die Schnur seines Monokels war wie ein Strich auf seinem unvermeidlichen cremefarbenen Hemd. Er trug eine hellgraue Wollkrawatte, so daß ihn ein Deutscher sicher »flott« genannt hätte, dachte Smiley. Schick, das ist das rechte Wort - wie sich eine Bardame einen echten Gentleman erträumt.
»Ich war bei Sparrow. Es ist ein klarer Fall von Selbstmord. Die Leiche ist abtransportiert worden, und außer den normalen Formalitäten wird der Polizeidirektor keine weiteren Schritte einleiten. Die Leichenschaukommission wird in ein oder zwei Tagen zusammentreten. Man ist übereingekommen - das kann ich nicht deutlich genug unterstreichen, Smiley -, daß über unser seinerzeitiges Interesse an Fennan nicht ein Wort an die Presse kommen darf.«
»Ich verstehe.« (Sie sind gefährlich, Maston. Schwach sind Sie, und Angst haben Sie obendrein. Jeder andere Hals lieber als Ihrer . . . ich weiß schon. Wie Sie mich da ansehen, nehmen Sie mir direkt Maß für die Schlinge.)
»Glauben Sie bitte nicht, daß ich Sie kritisieren will, Smiley. Schließlich, wenn der Leiter des Sicherheitsdienstes die Einvernahme autorisiert hat, so brauchen Sie sich über nichts den Kopf zu zerbrechen.«
»Außer über Fennan.«
»Ganz richtig. Unglücklicherweise hat der Leiter des Sicherheitsdienstes es unterlassen, Ihren Antrag auf eine Einvernahme zu paraphieren. Ohne Zweifel hat er seine mündliche Zustimmung erteilt, nicht wahr?«
»Ja, das wird er sicher bestätigen.«
Maston sah Smiley wieder scharf und abschätzend an. In Smileys Kehle steckte plötzlich etwas. Er wußte, daß er unnachgiebig war, daß Maston ihn näher haben wollte, daß er mitkonspirieren sollte.
»Sie wissen ja, daß Fennans Amt mit mir in Kontakt war?«
»Ja.«
»Es wird eine Untersuchung stattfinden müssen. Vielleicht läßt sich nicht einmal die Presse draußen halten. Sicherlich muß ich gleich morgen früh zum Innenminister.« (Versuchen Sie nur, mir Angst einzujagen . . . ich mache weiter . . . vielleicht die Pensionierung . . . auch nicht mehr zu verwenden . . . aber ich werde an Ihrer Lüge nicht teilnehmen, Maston.) »Ich muß alle Tatsachen haben, Smiley. Ich muß meine Pflicht tun. Wenn Sie das Gefühl haben, daß Sie mir irgend etwas über diese Einvernahme sagen sollten, etwas, das Sie vielleicht nicht notiert haben, dann sagen Sie es mir jetzt und lassen Sie mich beurteilen, ob es wichtig ist.«
»Es ist nichts dem hinzuzufügen, was schon im Akt steht und was ich Ihnen heute abend gesagt habe, wirklich. Es wird Ihnen vielleicht helfen (das >Ihnen< kam vielleicht ein bißchen zu betont heraus), wenn ich Ihnen noch sage, daß die Einvernahme in einer völlig formlosen Atmosphäre stattgefunden hat. Die Vorwürfe gegen Fennan waren ziemlich fadenscheinig: Parteimitgliedschaft an der Universität in den dreißiger Jahren und vages Gerede von Sympathie auch heute noch. Die Hälfte der Regierungsmitglieder waren in den dreißiger Jahren bei der Partei.« Maston runzelte die Stirn. »Als ich in sein Zimmer im Außenamt kam, stellte sich heraus, daß dort ein recht reger Verkehr herrschte - ununterbrochen kamen Leute herein und gingen wieder, deshalb regte ich an, daß wir hinausgehen und einen Spaziergang im Park machen sollten.«
»Und was war weiter?«
»Ja, das taten wir also. Es war ein sonniger, kalter Tag, recht angenehm. Wir haben den Enten zugesehen.« Maston machte eine ungeduldige Bewegung. »Wir waren ungefähr eine halbe Stunde im Park - das Reden besorgte ausschließlich er. Er war ein intelligenter Mann und sprach flüssig und interessant, aber auch nervös, natürlich. Leute wie er sprechen gerne über sich selbst, und ich glaube, er war froh, sich die Sache vom Herzen reden zu können. Er berichtete mir die ganze Geschichte - es schien ihm auch nichts auszumachen, Namen zu nennen -, und dann gingen wir in ein Espresso in der Nähe von Millbank, das er kannte.«
»Ein was?«
»Eine Espresso-Bar. Sie verkaufen dort eine besondere Art von Kaffee für einen Shilling die Tasse. Wir haben einen getrunken.«
»Aha. Also unter diesen gastlichen Umständen haben Sie ihm dann gesagt, daß das Department keine weiteren Schritte empfehlen würde.«
»Ja, das tun wir ja oft, aber normalerweise machen wir keinen diesbezüglichen Vermerk.« Maston nickte. So etwas versteht er, dachte Smiley. Mein Gott, er ist wirklich ein recht verächtlicher Kerl. Es war direkt aufregend, festzustellen, daß Maston wirklich so unangenehm war, wie er erwartet hatte.
»Ich darf daher annehmen, daß sein Selbstmord und der Brief natürlich - Sie völlig überrascht haben? Eine Erklärung haben Sie nicht?«
»Es wäre merkwürdig, wenn ich eine hätte.«
»Haben Sie auch keine Ahnung, wer ihn denunziert haben könnte?«
»Nein.«
»Er war ja verheiratet, wie Sie wissen.«
»Ja.«
»Ob nicht... es wäre denkbar, daß seine Frau einige der Lücken schließen könnte. Ich zögere zwar, das anzuregen, aber vielleicht sollte sie jemand vom Department besuchen und, soweit es die Umstände erlauben, über alles befragen.«
»Jetzt?« Smiley sah ihn ausdruckslos an.
Maston stand an seinem großen, niedrigen Schreibtisch und spielte mit dem Schlächterwerkzeug des Geschäftsmannes - Papiermesser, Zigarettendose und Feuerzeug -, den Requisiten offizieller Gastfreundschaft. Er zeigt einen vollen Zoll von seiner cremefarbenen Manschette, dachte Smiley und bewunderte seine gepflegten Hände.
Maston blickte auf und gab seinem Gesicht einen Ausdruck von Sympathie.
»Smiley, ich weiß, wie Ihnen zumute ist, aber trotz dieser Tragödie müssen Sie die Lage verstehen. Man wird von uns im Ministerium einen völlig erschöpfenden Bericht über diese Affäre verlangen, und meine besondere Aufgabe ist es, ihn zu geben. Besonders jede Art von Information über Fennans Gemütszustand unmittelbar nach der Einvernahme durch . . . durch uns. Vielleicht hat er mit seiner Frau darüber gesprochen. Es muß nicht sein, aber wir müssen realistisch denken.«
»Wünschen Sie, daß ich hingehe?«
»Irgendwer muß es ja. Da ist noch die Frage der Leichenschau. Natürlich wird das das Innenministerium entscheiden müssen, aber im Augenblick haben wir einfach keine Tatsachen. Die Zeit drängt, und Sie kennen den Fall, weil Sie ja die Hintergründe untersucht haben. In dieser kurzen Zeit kann sich niemand in die Sache einarbeiten. Wenn überhaupt wer geht, dann werden Sie es sein müssen, Smiley.«
»Und wann soll ich gehen?«
»Es scheint, als wäre Mrs. Fennan eine etwas ungewöhnliche Frau. Eine Ausländerin, auch Jüdin, die während des Krieges schrecklich gelitten hat, was die Verwirrung nur noch größer macht. Sie hat einen starken Charakter und ist durch den Tod ihres Mannes verhältnismäßig wenig bewegt. Das ist zweifellos nur an der Oberfläche so. Aber sie ist feinfühlig und sie redet. Nach dem, was mir Sparrow sagt, verschließt sie sich nicht und wird Sie wahrscheinlich empfangen, sobald Sie hinkommen können. Die Polizei von Surrey kann ihr mitteilen, daß Sie auf dem Wege zu ihr sind, und Sie können sie gleich in der Früh besuchen. Ich werde Sie dann dort später am Tag anrufen.«