Sie wartete bewegungslos. Was konnte er sagen? -»Tut mir leid, daß ich Ihren Mann umgebracht habe, aber ich habe nur meine Pflicht getan.« (Pflicht wem gegenüber, um Himmels willen?) »Er war in der kommunistischen Partei in Oxford vor vierundzwanzig Jahren. Seine vor kurzem erfolgte Beförderung gab ihm Zutritt zu höchst geheimen Akten. Irgendein Wichtigtuer hat einen anonymen Brief geschrieben, und uns ist nichts anderes übriggeblieben, als der Sache nachzugehen. Das Verhör hat Ihren Mann in eine Art Melancholie versetzt, die ihn zum Selbstmord getrieben hat.« - Er sagte nichts.
»Es war ein Spiel«, sagte sie plötzlich. »Ein alberner Balanceakt mit Ideen. Es hat nichts mit ihm oder irgendeiner anderen wirklichen Person zu tun gehabt. Warum bemühen Sie sich? Gehen Sie zurück nach Whitehall und sehen Sie sich in Ihren Schreibtischladen nach anderen Spionen um.« Sie machte eine Pause, ohne ein weiteres Zeichen der Erregung zu geben außer dem Flackern ihrer dunklen Augen. »Es ist eine uralte Krankheit, an der Sie leiden, Mr. Smiley«, fuhr sie fort und nahm eine Zigarette aus der Dose. »Und ich habe schon viele Opfer dieser Krankheit gesehen. Der Verstand löst sich vom Körper, er denkt ohne Realität, regiert in einem Königreich aus Papier und erfindet ohne Gemütsbewegung den Untergang seiner Papieropfer. Aber manchmal hat die Trennungswand zwischen eurer Welt und unserer Löcher. Die Akten werden zu Köpfen, Armen und Beinen, und das ist eine schreckliche Situation, nicht wahr? Die Namen haben neben den Dossiers auch Familien und menschliche Motive, die die traurigen kleinen Aktennotizen und konstruierten Vergehen erklären können. Wenn so was passiert, dann tut ihr mir leid.« Sie machte eine kurze Pause und fuhr dann fort: »Es ist wie mit dem Staat und dem Volk. Der Staat ist auch so ein Traum, ein Symbol für nichts, ein Vakuum, ein Geist ohne Körper, ein Spiel, das mit Wolken am Himmel gespielt wird. Aber Staaten führen Krieg, nicht wahr, und sperren Menschen ein. In Doktrinen zu träumen, wie sauber ist das doch! Mein Mann und ich sind jetzt gesäubert worden, hab ich nicht recht?« Sie sah ihn starr an. Jetzt war ihr Akzent deutlicher zu hören als früher.
»Ihr nennt euch den Staat, Mr. Smiley. Unter Menschen aus Fleisch und Blut ist für euch kein Platz. Ihr habt aus heiterem Himmel eine Bombe fallen lassen. Kommt jetzt nicht herunter und seht euch das Blut an oder hört euch das Stöhnen an.«
Sie hatte ihre Stimme nicht erhoben und sah über ihn hinweg in die Ferne.
»Ich glaube, Sie sind schockiert. Ich sollte wahrscheinlich weinen, aber ich habe keine Tränen mehr, Mr. Smiley, ich bin ausgedörrt. Die Kinder meines Schmerzes sind tot. Ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind, Mr. Smiley. Sie können wieder zurückgehen. Hier können Sie nichts weiter tun.«
Er saß vorgelehnt in seinem Stuhl und rieb auf den Knien seine dicken Hände aneinander. Er sah gequält und scheinheilig aus wie ein Kolonialwarenhändler, der das Evangelium liest. Die Haut seines Gesichtes war weiß und glänzte an den Schläfen und über der Oberlippe. Nur unter seinen Augen war Farbe. Hellviolette Halbmonde, die durch die Fassung seiner Brille in zwei Teile geteilt wurden.
»Hören Sie, Mrs. Fennan, diese Einvernahme war fast eine Normalität. Ich glaube sogar, daß sie Ihrem Mann direkt Vergnügen machte. Ich vermute, er war sogar glücklich, es überstanden zu haben.«
»Wie können Sie so etwas sagen, wie können Sie das, wo doch . . .«
»Aber ich sage Ihnen doch, daß es wahr ist. Nicht einmal in einem Amt haben wir das Palaver abgehalten. Wie ich hingekommen bin, habe ich gleich gesehen, daß sein Büro eine Art Durchzugstraße zwischen zwei anderen Räumen ist, deshalb sind wir hinaus in den Park gegangen und landeten schließlich in einem Café - kaum eine peinliche Befragung, wie Sie sehen. Ich habe ihm auch gesagt, daß er sich keine Sorgen machen soll - ausdrücklich habe ich das gesagt. Ich verstehe den Brief einfach nicht, er steht direkt in . . .«
»Ich denke nicht an den Brief, Mr. Smiley, sondern an das, was er mir gesagt hat.«
»Wie meinen Sie das?«
»Die Einvernahme hat ihn fürchterlich aufgeregt, das hat er mir gesagt. Wie er am Montag abend nach Hause gekommen ist, war er völlig verzweifelt, fast verwirrt. Er brach in einem Stuhl zusammen, und ich habe ihn überredet, zu Bett zu gehen. Dann habe ich ihm ein Beruhigungsmittel gegeben, das die halbe Nacht gewirkt hat. Am nächsten Morgen hat er noch immer davon gesprochen. Das Erlebnis hat ihn bis zu seinem Tod ununterbrochen beschäftigt.«
Im oberen Stockwerk läutete das Telefon. Smiley erhob sich.
»Entschuldigen Sie bitte, das wird mein Amt sein. Sie gestatten doch.«
»Es ist im vorderen Schlafzimmer, gerade über uns.«
Smiley ging langsam hinauf. Er befand sich in einem Zustand völliger Verwirrung. Was sollte er Maston jetzt sagen?
Er hob den Hörer ab und sah mechanisch auf die Nummer des Apparates.
»Walliston 2944.«
»Hier ist das Fernsprechamt. Guten Morgen. Ihr Weckanruf für acht Uhr dreißig.«
»Ach ja, danke schön.«
Er legte auf und war für die kleine Erholungsfrist dankbar. Dann warf er einen kurzen Blick auf das Schlafzimmer. Es war das Fennans, einfach, aber bequem eingerichtet. Zwei Lehnstühle vor dem Gaskamin. Smiley erinnerte sich jetzt daran, daß Elsa Fennan nach dem Krieg drei Jahre lang bettlägerig gewesen war. Es war wahrscheinlich ein Überbleibsel aus dieser Zeit, daß sie auch jetzt abends im Schlafzimmer gesessen hatten. Die Nischen beiderseits des Kamins waren voll mit Büchern, und in einer Ecke des Zimmers stand eine Schreibmaschine auf einem Tisch. An der ganzen Anordnung war irgend etwas rührend Intimes, und vielleicht zum erstenmal wurde Smiley die Tragödie von Fennans Tod unmittelbar bewußt. Er kehrte in das Wohnzimmer zurück.
»Es war für Sie. Der Weckanruf für acht Uhr dreißig von der Zentrale.«
Er merkte, daß eine Pause entstand, und sah sie gleichgültig an. Aber sie hatte sich von ihm weggewendet und sah zum Fenster hinaus. Ihr schlanker Rücken war aufgerichtet und bewegungslos, während sich ihr glattes kurzes Haar dunkel gegen das Morgenlicht abhob.
Plötzlich starrte er sie mit großen Augen an. Es war da etwas passiert, das ihm schon oben im Schlafzimmer hätte auffallen sollen, etwas so Unwahrscheinliches, daß sein Hirn im Augenblick unfähig war, es zu erfassen. Mechanisch redete er weiter. Er mußte weg von hier, weg vom Telefon und Mastons hysterischer Fragerei, weg von Elsa Fennan und ihrem dunklen, ruhelosen Haus. Nur weg, um nachzudenken.
»Ich habe Sie schon genug belästigt, Mrs. Fennan, und ich will jetzt Ihren Rat annehmen und nach Whitehall zurückkehren.«
Wieder die kalte, zarte Hand, die gemurmelten Beileidsworte. Er holte sich seinen Mantel in der Halle und trat in das frühe Licht hinaus. Die Wintersonne war nach dem Regen gerade einen Augenblick durch die Wolken gebrochen und ließ die Bäume und Häuser von Merridale Lane in nassen Farben erstrahlen. Der Himmel war noch dunkelgrau, und die Welt darunter, merkwürdig hell, gab das Sonnenlicht zurück, das sie aus dem Nichts gestohlen hatte.
Langsam ging er den Kiesweg hinunter. Er hatte Angst davor, zurückgerufen zu werden.
Voll der verwirrendsten Gedanken kehrte er in die Polizeistation zurück. Zunächst einmal war es nicht Elsa Fennan, die die Zentrale gebeten hatte, sie an diesem Morgen um acht Uhr dreißig zu wecken . . .
Kaffee im » Fountain «
Der Oberinspektor des C.I.D. in Walliston war eine großzügige, heitere Seele, die berufliches Können nach Dienstjahren beurteilte und das auch für richtig hielt. Sparrows Inspektor, Mendel, hingegen war ein dürrer Mann mit einem Wieselgesicht, der aus einem Mundwinkel heraus und sehr schnell sprach. Smiley verglich ihn heimlich mit einem Wildhüter - einem Mann, der sein Gebiet kannte und Eindringlinge nicht schätzte.