»Ich habe eine Botschaft von Ihrer Abteilung. Sie sollen Ihren Chef sofort anrufen.« Der Oberinspektor deutete mit seiner riesigen Hand auf das Telefon und ging durch die offene Tür aus seinem Büro. Mendel blieb. Smiley betrachtete ihn einen Augenblick sehr ernst und abschätzend.
»Schließen Sie die Tür!« Mendel ging hin und zog sie langsam zu.
»Ich möchte bei der Telefonzentrale in Walliston etwas erheben. Mit wem setzt man sich da am besten in Verbindung?«
»Mit der stellvertretenden Leiterin normalerweise. Die Leiterin hat ihren Kopf immer in den Wolken. Die Stellvertreterin macht die Arbeit.«
»Irgendwer aus dem Haus Merridale Lane Nummer fünfzehn hat darum gebeten, heute um acht Uhr dreißig geweckt zu werden. Ich möchte wissen, wann das geschehen ist und wer es war. Ich möchte auch wissen, ob vielleicht ein Dauerauftrag zum Wecken am Morgen vorliegt, und wenn das der Fall ist, die Details.«
»Wissen Sie die Nummer?«
»Walliston 2944. Der Teilnehmer heißt Samuel Fennan, denke ich.«
Mendel ging zum Telefon und wählte die Null. Während er auf Antwort wartete, sagte er zu Smiley: »Sie wollen sicher nicht, daß jemand davon erfährt, wie?«
»Nein. Nicht einmal Sie. Wahrscheinlich nichts dahinter. Wenn wir aber >Mord< zu schreien anfangen, dann werden wir . . .«
Mendel hatte Verbindung mit der Zentrale bekommen und fragte nach der Stellvertreterin.
»Hier spricht das C.I.D. Walliston, das Büro des Oberinspektors. Wir haben eine Anfrage ... ja, natürlich . . . dann rufen Sie mich zurück . . . C.I.D. externe Leitung, Walliston 2421.«
Er legte den Hörer wieder auf und erwartete den Rückruf der Zentrale. »Vernünftiges Mädchen«, brummte er, ohne Smiley anzusehen. Das Telefon läutete, und er begann sofort zu sprechen.
»Wir untersuchen einen Einbruchdiebstahl in Merridale Lane Nummer achtzehn. Es ist vielleicht möglich, daß die Diebe das Haus Nummer fünfzehn als Beobachtungspunkt für das gegenüberliegende Haus benutzten. Haben Sie eine Möglichkeit, die ankommenden und abgehenden Telefongespräche auf der Nummer Walliston 2944 während der letzten vierundzwanzig Stunden festzustellen?«
Es entstand eine Pause. Mendel legte seine Hand über das Mundstück und drehte sich mit einem leichten Grinsen zu Smiley um. Smiley begann plötzlich Sympathie für ihn zu empfinden.
»Sie fragt die Mädchen«, sagte Mendel. »Und sie will die Abrechnungszettel durchsehen.« Er konzentrierte sich wieder auf das Telefon und begann Ziffern auf den Block des Oberinspektors zu kritzeln. Plötzlich hielt er inne und lehnte sich nach vorne über den Schreibtisch.
»Ja, ja.« Im Gegensatz zu seiner Haltung war seine Stimme gleichgültig. »Wann hat sie denn darum ersucht?« Wieder eine Pause . . . »Um neunzehn Uhr fünfundzwanzig . . . wie, ein Mann? Ist die Telefonistin ganz sicher, bestimmt? . . . Aha. Gut, das geht in Ordnung. Trotzdem vielen Dank. Na ja, wenigstens wissen wir Bescheid . . . aber nein, Sie haben uns sehr geholfen . . . nichts als eine Annahme, sonst gar nichts . . . müssen die Sache eben von einer anderen Seite her anpacken, nicht wahr. Also, nochmals vielen Dank. Sehr freundlich, ja, behalten Sie es bei sich . . . auf Wiederhören.« Er legte auf, riß das Blatt von dem Block und steckte es in seine Tasche.
Smiley sagte ruhig: »Da unten am Ende der Straße ist ein scheußliches Café. Ich brauche ein Frühstück. Kommen Sie mit und trinken Sie eine Tasse Kaffee mit mir.« Das Telefon läutete. Smiley konnte Maston am anderen Ende der Leitung förmlich fühlen. Mendel sah ihn einen Augenblick an und schien zu verstehen. Sie ließen es läuten und gingen schnell aus der Polizeistation in Richtung High Street.
Das Café »Fountain« (Besitzerin Miss Gloria Adam) war ganz im Tudorstil gehalten, mit viel Messing und billigem lokalem Kitsch, mehr als sonstwo. Miss Adam schenkte den scheußlichsten Kaffee südlich von Manchester aus und sprach von ihren Gästen als: »Meine Freunde«. Miss Adam machte auch mit Freunden keine Geschäfte, sondern raubte sie ganz einfach aus, was die Illusion von vornehmem Dilettantismus, auf die sie so großen Wert legte, noch verstärkte. Ihre Herkunft lag im Dunkel, aber sie sprach oft von ihrem verstorbenen Vater als dem »Oberst«. Unter denjenigen von Miss Adams Freunden, die für diese Freundschaft besonders schwer bezahlt hatten, ging das Gerücht, daß die besagte Würde eines Obersten von der Heilsarmee verliehen worden war.
Mendel und Smiley saßen an einem Ecktisch in der Nähe des Kaminfeuers und warteten auf das, was sie bestellt hatten. Mendel sah Smiley von der Seite her an: »Das Mädchen erinnert sich genau an den Anruf. Er kam gerade am Ende ihrer Schicht - fünf Minuten vor acht, gestern abend. Es war eine Bestellung für einen Weckruf für heute morgen um acht Uhr dreißig. Es war Fennan selbst - das beschwört das Mädchen.«
»Wieso?«
»Dieser Fennan hat offenbar am Weihnachtstag in der Zentrale angerufen, und dasselbe Mädchen hatte Dienst. Er wollte ihnen allen >Fröhliche Weihnachten wünschen. Sie war ganz gerührt, und sie haben sehr nett miteinander geplaudert. Sie ist ganz sicher, daß es dieselbe Stimme war. >Ein sehr kultivierter Herr<, hat sie gesagt.«
»Aber es ist unverständlich. Um zehn Uhr dreißig hat er seinen Abschiedsbrief geschrieben. Was ist zwischen acht und dieser Zeit passiert?«
Mendel griff nach einer alten speckigen Aktentasche. Sie hatte kein Schloß. Mehr wie eine Notenmappe, dachte Smiley. Dieser entnahm er eine gewöhnliche braune Kartonmappe und gab sie Smiley. »Das Faksimile des Briefes. Der Chef hat gesagt, daß ich Ihnen eine Kopie geben soll. Sie schicken das Original an das Außenamt und eine weitere Abschrift direkt an Marlene Dietrich.«
»Wer zum Teufel ist das?«
»Tut mir leid, mein Herr. So nennen wir Ihren Chef. Ziemlich allgemein in der Branche. Tut mir leid, mein Herr.«
Wie herrlich, dachte Smiley, einfach unglaublich herrlich. Er öffnete die Mappe und sah sich die Kopie an. Mendel redete weiter: »Der erste Abschiedsbrief in Maschinenschrift, der mir je untergekommen ist. Übrigens auch der erste mit der Zeit drauf. Die Unterschrift sieht aber aus, als wäre sie in Ordnung. Ich habe sie auf der Station mit einer Empfangsbestätigung verglichen, die er einmal für irgendeinen verlorenen Gegenstand unterschrieben hat. Die ist goldrichtig. «
Der Brief war auf der Maschine geschrieben, wahrscheinlich einer Portable. Genauso wie die anonyme Denunziation, die stammte auch von einer Portable. Unter diesem Brief hier stand Fennans nette, gut leserliche Unterschrift. Unter der gedruckten Adresse am Kopf des Blattes war das Datum getippt und darunter die Zeit: 10.30 abends.
Sehr geehrter Sir David,
nach einigem Zögern habe ich beschlossen, mir das Leben zu nehmen. Ich kann die Jahre, die mir noch verbleiben würden, nicht in einer Atmosphäre des Verdachtes auf Verrat verbringen. Es ist mir klar, daß meine Karriere ruiniert ist und daß ich das Opfer von bezahlten Denunzianten bin.
Ihr ergebener Samuel Fennan
Smiley las den Brief mehrere Male durch. Konzentriert spitzte er die Lippen, und seine Augenbrauen hoben sich ein wenig, als wäre er erstaunt. Mendel fragte ihn: »Wie sind Sie draufgekommen?«
»Auf was?«
»Na, die Sache mit dem Anruf am Morgen.«
»Ach so. Ich habe den Anruf entgegengenommen. Dachte, er wäre für mich. Aber das war nicht der Fall - es war die Zentrale mit dieser Geschichte. Auch da ist der Groschen noch nicht gefallen. Ich habe geglaubt, es wäre für sie, verstehen Sie. Ich bin hinuntergegangen und habe es ihr gesagt.«
»Hinunter?«
»Ja, sie haben das Telefon im Schlafzimmer. So an der Bettkante, ja . . . sie war doch früher lange krank, verstehen Sie, und sie haben das Zimmer so gelassen, wie es damals war, nehme ich an. Es sieht auf der einen Seite wie ein Studierzimmer aus. Bücher, Schreibmaschine, Schreibtisch und so weiter.«
»Eine Schreibmaschine?«
»Ja, eine Portable. Ich vermute, daß er darauf diesen Brief geschrieben hat. Aber als ich den Anruf entgegennahm, hatte ich vergessen, daß Mrs. Fennan ihn unmöglich bestellt haben konnte.«