»Nicht ganz, Sturm Feuerklinge«, korrigierte Fürst Bonifaz, als ob er die Gedanken des Jüngeren lesen könnte. »Die Regeln der Jagd sind einfach, so einfach, wie Fürst Emelin sie an jenem Morgen in den Flügeln des Habbakuk ausgelegt hat. Aber Angriff sprühte vor Wut. Er spürte, daß etwas daran über Regel und Protokoll hinausging, aber Regel und Protokoll verlangten, daß über den Rest zu schweigen war. Er zog seinen Speer heraus…«
Bonifaz hielt inne und schüttelte etwas traurig den Kopf.
»Und ich steckte mein Schwert weg, damit wir aufsitzen konnten. Ich sah zu«, fuhr er fort, »wie mein Freund den ganzen Ritt von den Verkhus-Hügeln bis nach Schloß Feuerklinge schäumte. Er war so stumm wie ein Schaf unterm Scherer und sagte den ganzen Nachmittag kein Wort mehr. Denn schließlich verstieß es mehr gegen Kodex und Maßstab, sich gegen seinen eigenen Vater aufzulehnen, als alles, was Fürst Emelin den Regeln entsprechend auf der Lichtung getan hatte.
Agion hat den jungen Angriff auf dem ganzen Rückweg nach Schloß Feuerklinge gehänselt. Er rief ihn ›Treiber‹ und ›Spürhund‹ und ›Alan‹, als ob der Junge bei der ganzen Jagd nur das Tier aufgespürt hätte. Angriff kochte fast über, aber er schwieg immer noch. Doch ich wußte, daß die Sache noch nicht ausgestanden war.
Es geschah beim Bankett am Abend zu Ehren von Fürst Emelin. Alle führenden Familien waren da – die Merkenins, die Jeoffreys, die Celestes –, und es ging um Jagd und Zeremonien.
Nachdem das Essen aufgetragen war und die Gäste dem Essen und dem Wein kräftig zugesprochen hatten, ging Angriff zu seinem Vater. Agion, der links neben Fürst Emelin saß, rümpfte die Nase, als er kam, und sagte viel zu laut: ›Da kommt der Junge, der um seinen Hundeanteil betteln will.‹«
Sturm hielt den Atem an. Wenn man bei der Jagd ein Tier abgezogen und zerlegt hatte, überließ man die Eingeweide und Hufe den Hunden. Agions Worte waren nicht nur beleidigend, sondern schon grausam.
»Emelin drehte sich zu Agion um und sagte etwas in scharfem Ton, aber man konnte nichts verstehen«, erzählte Bonifaz, »doch Angriff schien den dicken Flegel nicht zu beachten. Er stand schweigend vor seinem Vater, bis Fürst Emelin von dem Streit mit seinem Cousin aufblickte. Dann fing Angriff an. Seine Rede war sanft und milde und genauestens durchdacht, aber noch nie zuvor oder seither sind in Schloß Feuerklinge solche Worte gesprochen worden.
›Mein Fürst und Vater weiß‹, sagte er, ›daß Maßstab und wahre Gerechtigkeit manchmal nicht übereinstimmen. Er weiß auch, daß – trotz Schwert und Gnadenstoß – mein Speer Fürst Tück den tödlichen Stoß versetzt hat.‹
Das klang gestelzt und künstlich, aber man hatte ihn verstanden. Ein Murmeln ging durch den Raum, bis Fürst Emelin verärgert aufstand.
›Willst du damit sagen, Angriff‹, fragte er, ›daß dein Vater… daß ich… dir die Trophäe gestohlen hätte?‹
›Gestohlen würde ich es nicht nennen‹, entgegnete Angriff, dessen eigener Ärger durch die ruhige Höflichkeit hervorbrach. ›Eher erobert.‹
Da holte Fürst Emelin aus und schlug seinen Sohn ins Gesicht.«
»Schlug ihn ins Gesicht?« fragte Sturm, dessen Stimme sich vor Empörung erhob. »Vor seinen Freunden bei einem offiziellen Bankett? Aber… es gibt kein… keine…«
»Keine Antwort auf so eine Demütigung«, erwiderte Bonifaz ruhig. »Anscheinend nicht. Aber Emelin hatte alle Grenzen überschritten, hatte den Grundsatz des Maßstabs verletzt, denn ›obwohl die Ehre alle Gestalten und Formen annehmen kann, muß der Vater seinen Sohn ehren wie der Sohn den Vater.‹ Seinen Vater zurückzuschlagen, wäre undenkbar gewesen, genau wie jedes harte Wort angesichts einer solchen Beleidigung. Aber er konnte auch nicht stehenbleiben und den Schlag hinnehmen, ohne seine Mannesehre zu verlieren.
Emelin wurde sofort rot vor Scham. Er wußte, daß er zu weit gegangen war, aber er konnte den Schlag nicht zurücknehmen. Anscheinend gab es für Angriff keinen Ausweg. Aber hör zu.
Weiß vor Wut stand er vor seinem Vater. Der knallrote Abdruck von der Hand des alten Emelin war noch in seinem glatten Gesicht zu sehen. Da drehte Angriff sich um und schlug Agion gezielt aufs Nasenbein.
Es gab ein Geräusch, als wenn ein dicker Ast im Sturm bricht. Agion fiel schwer hintenüber und knallte auf den Boden, wo er eine gute halbe Stunde bewußtlos liegenblieb. Als er aufwachte, brabbelte er etwas über Socken und Rhabarberkuchen.«
»Mein Vater hat Agion geschlagen?« rief Sturm erstaunt und entzückt aus. »Aber wieso? Und… und…«
»Hör zu«, sagte Bonifaz lächelnd. »Denn jetzt kommt, was dein Vater gesagt hat: ›Zeig das meinem Vater, wenn ihr euch mal wieder prügelt. Es war mein Treffer auf ihn, so wie er Fürst Tück getroffen hat.‹«
Sturm schüttelte bewundernd den Kopf. »Wie ist er darauf bloß gekommen, Fürst Bonifaz? Wie ist er darauf bloß gekommen?«
Bonifaz machte den Beutel zu seinen Füßen auf und zog langsam den Brustharnisch und den Schild heraus. »So hat er eben gedacht, Sturm. Er hat auch daran gedacht, das hier bei mir zu lassen… damit ich es zu gegebener Zeit an dich weitergebe.«
Atemlos griff Sturm nach dem Schild.
»Der Eid verpflichtet mich, dir das hier zu geben«, erklärte Bonifaz geheimnisvoll. »Aber dieses Schwert, das ist… mein Geschenk.«
Er reichte ihm das Breitschwert aus seinem Schoß. »Dein Vater hat die Blitzklinge anscheinend mitgenommen oder irgendwo versteckt, wo sie nicht einmal seine Freunde gefunden haben. Aber Angriff Feuerklinges Sohn verdient ein Schwert wie das, das ich dir hier gebe.«
Er streckte ihm das Heft der Waffe entgegen. Im Lampenschein von Sturms Zimmer glänzte es matt.
»Mach es zu deinem«, flüsterte Bonifaz geheimnisvoll. »Dein blitzendes, zweischneidiges Schwert.« Bonifaz ließ Sturm mit dem Schwert auf den Knien zurück. Ein oder zwei Stunden lang polierte der Junge die Waffe. In der glänzenden Klinge konnte er sein Spiegelbild sehen, und ähnlich im eckigen Rand des Schildes. Als Fürst Gunthar Uth Wistan das Zimmer betrat, nahm Sturm ihn kaum wahr.
»Im Südlichen Finsterwald mußt du besser auf der Hut sein«, bemerkte der Hofrichter, als der Junge überrascht aufsprang und das Schwert klirrend auf den Steinboden fiel.
»Ich habe… ich…«
Fürst Gunthar ignorierte das Gestammel des Jungen und setzte sich, wobei sein Kettenhemd rasselte. Vorsichtig legte er das Bündel ab, das er mitgebracht hatte – etwas Schweres, Unförmiges, das in eine Decke gewickelt war. Sturm wunderte sich, daß der Mann in voller Rüstung durch die Gänge des Turms gewandert war. Man konnte meinen, der Turm des Oberklerikers würde belagert.
Jetzt streckte Gunthar seinen Arm aus. In der Handfläche des Handschuhs lagen ein paar hellgrüne Blätter. »Kennst du die?« fragte er kurz.
Sturm schüttelte den Kopf.
»Kalvianeiche«, stellte der Ritter schlicht fest. »Erinnerst du dich an das alte Sprichwort?«
Sturm nickte. Mit Reimen und Legenden kannte er sich besser aus als mit Blättern und Bäumen. ›»Grünt zuletzt und fällt zuletzt‹, Sir. Heißt es jedenfalls unten in Solace.«
»Hier sagt man genauso«, bestätigte Gunthar. »Deshalb ist es auch so merkwürdig, daß ich diese Blätter mitten im Winter anbringe, meinst du nicht auch?«
Er bedachte Sturm mit einem ruhigen, undurchschaubaren Blick.
»Ich muß aufbrechen«, stellte der Junge fest. »Das hat es zu bedeuten.« Das Zimmer kam ihm warm vor, und durch das Fenster trieb ein leichter Südostwind Blütenduft herein.
5
Abreisen und Pläne
An diesem Morgen wendeten nur die Frechsten ihre Augen nicht ab.
Während die Nacht zu Ende ging und die Glocke der dritten Wacht tief und einsam durch die kalten, fackelerhellten Korridore hallte, regten sich die Knappen langsam, um ihren Herren die Rüstung zu richten. Sie murrten über das Wetter und die frühe Stunde. Zu dieser Zeit wurde es normalerweise richtig lebendig, es wurde gescherzt und geschwatzt, aber heute morgen war es still, alle dämpften ihre Stimmen, als Sturm auf dem Weg zum Stall vorbeieilte. Schweigend, fast beschämt, wendeten Ritter und Knappen die Augen ab. Sogar die Diener, die den Angelegenheiten der Solamnier sonst gleichgültig gegenüberstanden, unterhielten sich nur noch im Flüsterton.