Seufzend wendete der Junge seinen Blick gen Osten, wo im schwachen Licht des Sonnenaufgangs und im schwindenden weißen Schein von Solinari die zwei Türme einer großen Burg am Horizont aufragten. Es war zwar sicher nicht Schloß Feuerklinge, aber immerhin ein Schloß, und in dieser Gegend gewährte ein Schloß denen vom Eid und vom Maßstab Zuflucht.
Gemächlich lenkte Sturm sein Pferd nach Osten zu den Türmen, die wie Nebel vor ihm aus dem Boden zu ragen schienen. Es dämmerte bereits, als die Wehrgänge sichtbar wurden, und im schwachen Grau des ersten Sonnenlichts konnte er das verblaßte Wappen des Schlosses ausmachen, das auf einem gewaltigen Schild über dem Westtor prangte.
Das Wappen war verwittert, die Farbe leicht abgebröckelt, doch Sturm kannte seine eigene Familiengeschichte gut genug, um die Linien zu erkennen: Hellrote Blume auf weißer Wolke vor blauem Grund.
»Di Caela!« hauchte Sturm. »Die Heimat meiner Großmutter! Wir sind weit nach Süden abgekommen, meine liebe Luin. Aber irgendwie sind wir wohl zu Hause.«
Das Pferd schnaubte wieder angesichts der Aussicht auf einen Stall. Langsam verfiel es in Trab, dann in einen leichten Galopp, und mit verdoppelter Energie trug es Sturm Feuerklinge zu den verwitterten Toren seiner Ahnen.
6
Im Finsterwald
Tief im Südlichen Finsterwald lag in einer Hängematte aus Weinranken und Blättern der Herr der Wildnis. Er schloß die Augen und setzte die Flöte ab. Das Licht um ihn her war grün und bernsteinfarben, als wäre der Wald aus dunklem, gewölbtem Glas.
Die Hängematte baumelte zwischen zwei alten Eichen über den Grundmauern einer noch älteren Ruine. Moosbedeckte Steine sprenkelten die Lichtung wie abgenutzte Zähne; es waren die Grundmauern eines kleinen Gebäudes, vielleicht einer kleinen Burg oder einem Kloster, das ohne Zweifel bereits im Zeitalter der Macht verlassen und dem Verfall anheim gegeben worden war.
Vertumnus’ Augen öffneten sich plötzlich. Über ihm in den Zweigen der alten Eiche hockten zwei Dryaden, die ihn erstaunt anstarrten.
»Du hättest ihn töten können!« zischte die kleinere der beiden, deren schwarzes Haar zu einer langen Schlinge geknotet war. Ihre Stimme klang voll und boshaft, wie der Wind, der in tote Blätter fährt.
Vertumnus antwortete nicht. Langsam faltete er die Hände über seiner Brust, und einen Augenblick sah er aus wie die Statue eines aufgebahrten Königs, still und königlich und undurchschaubar. Die Dryaden über ihm rutschten unruhig herum, und die Große krabbelte so geschickt wie eine Spinne im Netz am Rand der Hängematte entlang, bis sie neben dem grünen Mann ruhte und sich an ihn kuscheln konnte. Sie vergrub ihr Gesicht im grünen Dickicht seines Barts.
»Ich weiß, du willst ihn nicht töten«, flüsterte sie verführerisch. Ihre Stimme klang wie Flötentöne, und ihre Berührung war leicht wie das Flattern eines Flügels. »Und uns ist das egal. Aber hänsel ihn und verwirr ihn und schick ihn ganz konfus zurück zu seinen eidtreuen Brüdern. Tu es! Tu es jetzt!«
Vertumnus lachte, und der Wind pfiff durch sein Lachen.
»Ihr seid so blutrünstig wie Klesche, euer ganzer eichenbewohnender Haufen«, grollte er. »Und so dumm und stur wie Elstern.«
Blätter raschelten, als er die Dryaden fortschickte.
»Fort mit euch! Es ist Morgen und damit Zeit für mich zu schlafen.«
Er streckte sich, und die Dryade an seiner Seite krabbelte von der Hängematte hinunter auf die trockenen Blätter des Waldbodens. Sie zog einen Schmollmund und starrte den grünen Kerl an, der in den Zweigen über ihr eindöste und dessen Stimme voll fremdartigem Zauber war.
»Du bist keiner von uns«, klagte sie ihn an. »Noch nicht. Und keiner mehr von ihnen, auch wenn du dich vielleicht nach den Tagen von einst sehnst.«
Vertumnus lachte nur und drehte sich in der Hängematte um. Er schüttelte den Kopf, so daß Eicheln durch die verknüpften Schlingpflanzen regneten, und einen Moment lang schimmerte die Luft von tausend wirbelnden Flügelchen. Mit glitzernden, schwarzen Augen und warmem, aber unlesbarem Blick sah er belustigt die Dryade an.
»Wer bist du, kleine Evanthe, daß du sagen willst, wonach ich mich sehne und was ich mir wünsche?«
Irgendwo aus den dicken, ausladenden Lärchenzweigen flog eine große Eule mit einem Zweig mit knallblauen Beeren im Schnabel herunter. Sie setzte sich auf die Befestigung der Hängematte. Vertumnus zwinkerte der Eule zu und warf noch einen ironischen Blick auf die eingeschnappten Nymphen unter sich.
»Und jetzt«, gähnte er, »trollt euch in eine Eiche, damit meine Freundin und ich schlafen können, denn wir wollen die weisen Träume der Nachtschwärmer träumen.« Vertumnus zog eine Augenbraue hoch, drehte sich zu der Eule um und winkte den Nymphen noch einmal – diesmal ungeduldiger.
Die verärgerten Dryaden glitten mitten in den Wald, wobei sie sich noch zweimal nach diesem unbeeinflußbaren, grünen Mysterium ihrer Heimat umsahen.
»Du wirst nie einer von uns sein!« schrie die kleinere spöttisch. »Auch wenn du grün wie ein Schößling bist, wie ein Sommerlauch, wirst du nie wie wir sein, Herr der Wildnis!« Dann verschwanden die beiden im Dämmerlicht des Waldes.
Vertumnus lächelte und schloß die Augen.
»Diona«, flüsterte er, während er die Flöte an die Lippen setzte, »du hast keine Ahnung, wie wenig mir das ausmacht.«
Heiter blickte der grüne Mann in das dunkle Dach des Waldes hinein. Er setzte die Flöte an, nahm sie jedoch wieder runter, um zuerst ein paar beruhigende Worte an die Eule zu richten. Seine Stimme klang wie Pfeifen und leises Heulen und wie das Streichen des Windes durch die höchsten Äste, und dann machte der große Vogel es sich im flutenden Dickicht seiner Haare bequem. Vertumnus setzte die Flöte wieder an, woraufhin die anderen aus den Schatten kamen: Nachtigall und Falke, Elch und Eichhorn und Fledermaus und ein bernsteinäugiger Luchs.
Langsam begann der Herr der Wildnis mit der gemessenen, neunten Weise, die die Barden das Lied des Branchala nennen. Die überraschte Eule schlug mit den Flügeln, als in der Hängematte des Mannes neue Blätter sprossen. Obwohl Welt und Wetter um ihn her noch im zähen Griff des Winters hingen, war plötzlich Hochsommer.
Vertumnus spielte, bis Blumen um ihn her aufkeimten und blühten und ihre dünnen, hohlen Stengel durch seinen Bart und sein Haar schoben. Rasch wechselte er zur zehnten Weise, dem heiteren, lispelnden Lied von Mater, und in der Luft wehten süße Düfte. Auf den Zweigen über ihm nickten die Singvögel, die von den lieblichen Düften verführt wurden, und begannen allmählich mitzusingen – wie in dem Nebel auf der Solamnischen Ebene.
Die Augen des grünen Mannes blitzten vor Vergnügen. Denn als nächstes kam die elfte Weise, das Solinarische, das Lied vom Weißen Mond, der die Visionen schenkt. In ganz Ansalon spitzten sich die Ohren, sah man in die Luft, wenn leise und fast unmerklich die Töne aus dem Südlichen Finsterwald in die Welt hineinklangen.
Behende tanzten die grünen Finger über den Leib der Flöte, den man kaum noch sah, als die Musik schneller wurde. Vertumnus blickte zu dem grauen Fleck Morgenhimmel über sich auf, den man durch das schleierhafte Netz der Zweige sehen konnte, und sah zu, wie er langsam vom weißen Gesicht Solinaris ausgefüllt wurde.
Die Augen von Vertumnus blitzten auf. Der Tanz begann. Jetzt verdunkelten die Zweige nicht länger den Himmel, denn im Bann der Musik und des Lichts schienen sie zu einem Narbengewirr auf der Haut eines grandiosen Mondes zu schrumpfen.
Die schimmernde Oberfläche des Kreises wurde grün, während Vertumnus spielte, weil sie von einem fernen Himmelssturm verdeckt wurde. Die Wolken wirbelten und brodelten schweigend, bis aus ihrer Mitte Bilder erwuchsen, die die Oberfläche des Mondes bevölkerten.
Es war wie ein Wunder, wie eine Szene, die lebendiger war als eine Erinnerung, aber weniger lebendig als ein Anblick. Über die Oberfläche von Solinari trotteten ein Dutzend Zwerge von einem unsichtbaren Fels zum nächsten.