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Vertumnus verdrehte die Augen und spielte weiter.

Zwei von den Zwergen unterbrachen ihren geisterhaften Weg, wodurch ihre Schatten auf die Lippe des Mondes fielen. Sie sahen sich an, schnüffelten und schüttelten verwirrt den Kopf, als wollten sie etwas aus dem Ohr bekommen.

Vertumnus lächelte, ohne seine Lippen vom Mundstück der Flöte zu nehmen. So war es immer: Die Musik erreichte sie wie ein störender Gedanke, etwas Flüchtiges, an das sie sich nicht mehr erinnern würden, sobald sie es nicht mehr hörten. Aber das Lied von Solinari war ein Lied der Veränderung. Wer es hörte, wurde von der Musik verändert – jedenfalls wenn er zuhörte. Mancher veränderte sich kaum merklich, mancher von Grund auf, aber jeder, der Ohren hatte zu hören, wurde irgendwo im tiefsten Inneren seines Herzens berührt, und die Musik würde ihn nie mehr loslassen.

Die Zwerge verschwanden so rasch, wie sie aus den Wolken vor dem Mond aufgestiegen waren, und an ihrer Stelle ritten drei Ritter vorbei, die sich gegen den scharfen Winterwind einen Schal vor das Gesicht gebunden hatten.

Einer von ihnen trug keine Kopfbedeckung. Seine dunklen Haare waren von Grau durchzogen. Er zügelte sein Pferd an einem schneebedeckten Lärchenwäldchen. Halb versteckt im Schatten der Nadelbäume und im unsteten Licht des Mondes wandte er sein Gesicht dem Himmel zu, um konzentriert der Musik zu lauschen.

Etwas an seiner Art wirkte vertraut… doch, vertraut…

Aber bevor Vertumnus genauer hinsehen konnte, war er im grünen Tumult von Wolken vor dem Mond verschwunden. Da setzte Vertumnus die Flöte ab, und plötzlich war es, als wäre ein Wind über die Oberfläche von Solinari gefegt, so silbern blitzte der Mond auf…

Dann begann er plötzlich und übergangslos abzunehmen.

Vertumnus schüttelte traurig den Kopf, wobei seine langen, grünen Locken vor Tau trieften. Jetzt mußte er den Jungen wiederfinden, bevor der Mond zum Halbmond und zur Sichel wurde und dann ganz in die Dunkelheit abtauchte. Er mußte den finden, der ihn bis zum ersten Frühlingstag beschäftigen würde. Kurz und lustig spielte er einen einfachen Tanz aus der neunten Weise, so einfach, daß kaum Zauberei daran war. Die Dryaden, die das Lied in ihrem Bau tief im Wald gehört hatten, kamen aus den Bäumen zu ihm und zogen Eichenblätter und ein seltsames, silbernes Licht hinter sich her.

»Es gibt viel interessantere Tänzer, Vertumnus«, drängte Diona.

»Einer von den Rittern«, meinte Evanthe abwertend. »Selbst ein paar Zwerge wären unterhaltsamer.«

Vertumnus spielte, als ob er sie nicht hörte. Sturm sah vielleicht wirklich wenig vielversprechend aus, ein einzelner, phantasieloser, junger Mann, der von Brauchtum und Sitte gebunden war. Was die Nymphen nicht wußten, war, wie sehr dieser Feuerklinge ihn beschäftigte – wie der Zwischenfall beim Julfest Vertumnus monatelang aufgestört hatte. Es war Zeit, daß der Junge eine schwierige Lektion lernte, über Blut und Geduld und über den Betrug, der im Herzen seines geliebten Ordens schimmerte. Da er keinen Vater mehr hatte, hatte Vertumnus es übernommen, ihn das zu lehren.

Evanthe hatte vorhin recht gehabt. Vertumnus hätte Sturm Feuerklinge einmal, zweimal, vielleicht viele Male töten können. Denn das dunkle Wesen, das dem Jungen auf der nebelverhangenen Ebene gefolgt war, das keinem Menschen und nur wenigen Göttern gehorchte, tanzte nach der Musik von Vertumnus. Es hatte sich dem Jungen genähert, hatte ihn fast überwältigt, doch im letzten Moment hatte der grüne Mann es nach Norden gerufen, nach Kalaman und in die Bucht dahinter.

Es war zu früh für dunkle Wesen, zu früh, um den Jungen so schwer zu prüfen. Es würden noch genug Gefahren auf ihn zukommen, vielleicht auch der Tod. Aber jetzt noch nicht, denn der Tanz hatte erst begonnen. Und bis zum Frühling waren es noch vierzehn Tage.

Im Nebel und im Mondlicht suchte Vertumnus rasch nach Feuerklinge. Wie ein Wind wehte die Musik über die Ebene, kreiste über Burg Vingaard, bis Burg Thelgaard den großen Fluß hinunter und suchte ganz Solamnia ab, bis…

Bei den letzten, feierlichen Tönen der Melodie löste sich der Nebel vor einer alten, verlassenen Burgruine auf. Vertumnus’ dunkle Augen wurden groß.

Die Dryaden tauschten undurchschaubare Blicke aus.

»Da ist er, Evanthe«, flüsterte Vertumnus. Der Rest des Nebels verflog, und da saß Feuerklinge unsicher auf seinem ausgepumpten Pferd. Verängstigt vom Nebel, vom Feuer und von dem halsbrecherischen Ritt wirkte er geschrumpft und klein in der grotesken Rüstung von Solamnia.

»Geradezu mitleiderregend«, sagte Diona, deren dunkle Hand auf der Schulter des grünen Mannes lag.

»Für mich nicht«, antwortete Vertumnus, in dessen Stimme ein letzter Hauch Winter lag. »Meine Zweige kennen kein Erbarmen.«

So sahen er und die Eule und die Dryaden zu, wie der Junge durch die baufälligen Tore von Kastell di Caela ritt.

»Du kennst diesen Ort, Herr der Wildnis?« flüsterte Evanthe dem grünen Mann neckisch ins Ohr. Vertumnus lächelte, antwortete aber nicht.

Sturm stieg ab und führte die Stute über die bemoosten Steine des Hofs, an Ställen und verfallenen Häusern vorbei, zu den Mahagonitüren der eigentlichen Burg. Sie waren verwittert, aber noch intakt. Mit einiger Kraft gelang es dem Jungen, die Tür aufzustoßen.

»Ist stark, dein Tänzer!« spottete Diona. Vertumnus legte seinen langen, grünen Finger an ihre Lippen, und die Dryade wich zurück.

Jetzt ging der Junge hinein, und das Mittagslicht erhellte kurz die Dunkelheit der Burg.

»Jetzt ist er in der großen Halle«, murmelte Vertumnus, »mit den Wandbehängen, den goldenen Vögeln und dem Marmorgeländer.«

»Erzähl uns davon«, flüsterte Evanthe. »Erzähl, Vertumnus.«

Der Herr der Wildnis schloß die Augen und hob die Flöte an die Lippen. Etwas Heiteres, vielleicht mit ein bißchen mehr Zauber, oder etwas durchdringend Helles…

»Vertumnus! Sieh!« zischte Diona. Er schlug die Augen auf, als eine schattenhafte Gestalt wie ein unerwünschtes Gespenst in einem Traum über den fernen Hof lief. Der Mann, der Mantel und Kapuze trug, huschte von Schatten zu Schatten und drückte sich an den Mauern entlang. Er kam an die große Mahagonitür der Burg, legte die Hand daran…

… und schlug sie plötzlich mit Gewalt zu, um sie dann mit einem Dolch zu verschließen. So schnell, wie sie gekommen war, schlüpfte die Gestalt wieder davon, und aus der Burg kam ein gedämpftes Geräusch, als der Junge verzweifelt und hilflos gegen die verschlossene Tür schlug.

Vertumnus legte sich wieder in die Hängematte. Seine Flöte schwieg, als seine Finger ziellos darüber tanzten.

»Dieser Mann«, überlegte er, »der mit der Kapuze…«

Mit erfreutem Lächeln drehte er sich zu Evanthe um.

»Ich kenne ihn! Ich habe seinen Gang erkannt, seine Bewegungen.«

Lachend wuschelte er den Dryaden durch die Haare und scheuchte sie spielerisch aus der Hängematte.

»Geht zur Fürstin, Evanthe! Diona! Sagt ihr, der Tanz ist noch viel interessanter geworden!«

Und als die Nymphen durch den dichten immergrünen Wald davonliefen, sprang Vertumnus aus der Hängematte und schüttelte den Nebel aus seinen langen, grünen Locken. Er steckte die Flöte in den Gürtel und kletterte vom Baum. Eine lange Reise lag vor ihm, aber sie war kurz im Vergleich zu der Straße, die er vor sechs Jahren betreten hatte.

»Bonifaz!« flüsterte er. »Bei allen Glücks- und Unglückssternen, Fürst Bonifaz Kronenhüter von Nebelhafen! Er führt etwas im Schilde. Jetzt wird die Musik schneller.«

Bonifaz wandte sich von der Burgtür ab und schüttelte den Kopf, um das komische Summen aus den Ohren zu verbannen.

Jetzt war er zufrieden. Äußerst zufrieden. Denn jetzt war der neugierige Junge im Turm eingesperrt.

Es hatte ihm alles an Reitkunst abverlangt, um vor Sturm Feuerklinge in der Burg anzukommen. Er war in den dunklen Ställen abgestiegen und über den Hof gehuscht. Es war ihm gerade so eben gelungen, alle Türen der Burg zu verschließen, damit der Junge, wenn er erst einmal drinnen war, unmöglich wieder herauskam. Im ganzen Erdgeschoß des tausend Jahre alten Turms waren die Türen nicht mehr zu öffnen. Und allein die Höhe der oberen Fenster verhinderte ein Herauskommen durch sie.