»›Mitten aus dem Nichts‹«, rezitierte Sturm. »›Königin der vielen Farben und doch keiner.‹«
Dann sah er Huma selbst, dessen Gesicht genauso aussah wie seines.
»Bei Paladin«, flüsterte der Junge. »Mein Gesicht auf dem von Huma?« Durch die Splitter ging er näher heran, während er gebannt das beschädigte Fries ansah.
Nein. Er hatte sich geirrt. Humas Kopf hatten sie abgeschlagen, zweifellos bei der Einnahme des Schlosses. Was er gesehen hatte, war nur ein Spiel des Lichtes, ein plötzlicher, unerklärlicher Eindruck.
»Bald wird es dunkel werden«, sagte er zu sich. »Ich sollte weitergehen, solange noch die Sonne durch die Fenster scheint und mich vielleicht herausführen kann.« Tapfer holte er tief Luft und stieg die breite Treppe in die oberen Räume von Kastell di Caela hoch. Die Gänge waren von Statuen und halb verrosteten künstlichen Vögeln gesäumt.
Sturm hatte von den Kuckucks von Kastell di Caela gehört – daß sein Ururgroßvater, Sir Robert, diese ganzen zirpenden, schwirrenden Kunstwerke gesammelt hatte, von denen keines funktionierte, jedenfalls nie so, wie es sollte, und die jeden Besucher ärgerten und erschreckten. Urgroßmutter Enid hatte die ganzen Apparate im Katzenturm verstaut, dem kleineren der beiden Türmchen, aber Sir Robert und Sir Galen Pfadwächter, ein unberechenbarer Freund von Urgroßvater Bayard, hatten den Vogelpark in seiner ganzen entnervenden Pracht wiederhergestellt, weil sie fest daran glaubten, daß das Piepsen »den kleinen Emelin beruhigen« würde.
Jetzt waren sie alle tot. Robert war ertrunken, als sein Gnomengefährt, das dazu gedacht war, Pferde überflüssig zu machen, die Zugbrücke hinunter in den randvollen Burggraben der di Caelas gejagt war. Urgroßmutter Enid war mit hundertzwölf Jahren ruhig und friedlich entschlafen. Sie hatte so lange gelebt, daß sie noch den kleinen Sturm in der Wiege gesehen hatte. Was aus Sir Bayard und Sir Galen geworden war, wußte keiner. Noch vor der Jahrhundertwende, als beide schon weiße Haare gehabt, an Umfang ordentlich zugelegt und als glückliche Großväter mit ihren Enkeln gespielt hatten, war das ungewöhnliche Duo zu einem neuen Abenteuer nach Karthay aufgebrochen, in die hintersten Winkel des Courrainischen Ozeans. Nur Sir Galens Bruder, ein verrückter Eremit, der mit Vögeln und Grünzeug redete, hatte sie begleitet, und keiner von ihnen war zurückgekehrt.
Sturm betastete den Messingschnabel von einem der komischen Vögel. Der Bronzekopf fiel ihm in die Hand und piepste ein letztes Mal.
Soviel zu den di Caelas und denen, die sich mit ihnen einließen. Es war ein wild wuchernder Zweig der Familie: Sturms Mutter hatte ihn vor diesem Erbe gewarnt und dem Jungen eingeschärft, er müßte immer sein bestes Feuerklinge-Betragen zeigen, sonst würde er noch werden wie sie und Türme hochklettern, um sein Leben mit Katzen und Echsen zu verbringen.
Sturm zog das Schwert aus der Scheide, als er zum helleren Obergeschoß hochstieg, vorbei an den Markierungen der Diener, bis wohin die Geysire von 231 durch die Gänge hochgeschossen waren, um selbst die obersten Stockwerke zu überfluten. Dutzende von Statuen standen hier, noch aus der Zeit vor der Umwälzung, als die Blitzklinges wie die di Caelas in ungewohnter Heldenmanier unter den ersten Rittern an Vinas Solamnus’ Seite geschritten waren. Sie alle wachten für immer hier, wenn auch etwas staubig.
Sturm ging an ihnen entlang und staunte. Denn hier stand eine Statue von Lucero di Caela, der als Kommandant in den Ogerkriegen mit gezogenem Schwert in die Schlacht zog. Und da die Statue von Bedal Blitzklinge, der einarmig an einem Paß in Solamnia die Wüstennomaden aufhielt, bis Hilfe kam. Und da sogar Roderich di Caela, der eine Hobgoblininvasion aus Trot niedergeschlagen hatte, aber dabei ums Leben gekommen war.
Und die letzte der Statuen war Bayard Blitzklinge, zweifellos von Lady Enid zum Gedenken an ihren verschollenen Ehemann aufgestellt. Auch er zog sein Schwert und trat vor.
Sturm rieb sich die Augen, weil er nicht glauben konnte, was er plötzlich sah. Was unten in der großen Halle ein bizarrer Fehler gewesen war, war hier in den oberen Bereichen der Burg beunruhigend wahr.
Jeder Held hatte jetzt Sturms Gesicht, bis zu der Narbe am Kinn, die aus seiner Kindheit stammte. Schnell lief er von einem zum anderen und sah sich alle noch einmal an. Diesmal war es kein Lichtspiel. Wieder Vertumnus?
Eine Zeitlang saß er grübelnd an der Statue von Sir Robert di Caela. Es dauerte eine Weile, bis er zu sich kam und sofort aufsprang, denn er wollte sich auf keinen Fall in einem verlassenen Schloß von der Nacht überraschen lassen. Eilig durchschritt er die Räume und Kammern, während mit dem Sonnenlicht auch seine Hoffnung sank. Aus allen Fenstern würde ihn ein Sprung auf das Pflaster des Burghofs tief unten zweifellos umbringen.
Auf seiner verzweifelten Suche nach Spalieren, Wein oder geheimen Treppenschächten nahm Sturm drei Stufen auf einmal, bis er im Sonnenzimmer des obersten Geschosses angelangt war. Das Sonnenzimmer war das geräumige Gemach, in dem unzählige di-Caela-Fürsten und nach ihnen zwei Generationen Blitzklinges Tausende von Nächten verbracht hatten. Als Nachfahre dieser Tradition war Sturm ein bißchen benommen, als er den Raum betrat.
Von hier aus sah seine Lage allerdings höchstens noch hoffnungsloser aus. Über dem Sonnenzimmer waren die Zinnen, doch die einzige Leiter zu der Falltür in der Decke lag in knapp ellenlangen Stücken am Boden. Ja, es gab reichlich Fenster, aus buntem Glas in kräftigen Grünschattierungen, aber die saßen hoch in einem weiteren Lichtgaden, zu dem nicht einmal ein Eichhörnchen hätte hochklettern können.
Mutlos setzte sich Sturm auf das große Himmelbett und wickelte sich in die Überreste der zerrissenen Vorhänge.
»Morgen«, sagte er sich mit schweren Augenlidern in den muffigen, aber warmen Vorhängen. »Es gibt auf jeden Fall einen Keller, aus dem ich… bestimmt…«
Im grünen Abendlicht und den Staubwolken übermannte ihn die Müdigkeit und raubte ihm die Worte. Zwei oder drei Mal nieste er im Schlaf, ohne jedoch aufzuwachen.
Und so verschlief Sturm Feuerklinge seine erste Nacht unterwegs wie ein heruntergekommener Fürst in der Burgruine. Er war gefangen, Flucht schien aussichtslos, und er war so müde, daß er friedlich schlief, bis die Morgensonne durch die Falltür zu den Zinnen zu sehen war. Der nächste Tag brachte allerdings nichts Besseres. Die Kellerschlösser waren einfach zu knacken, aber alle Gänge oder Tunnel, die einst aus dem Keller herausgeführt haben mochten, waren versperrt. Sturm vermutete, daß dasselbe Erdbeben, das das Wasser bis in die oberen Stockwerke gedrückt hatte, auch die unteren Bereiche des Kastells versiegelt hatte. Trübselig wühlte er auf der Suche nach Geheimtüren, verborgenen Gängen und etwas Eßbarem zwischen leeren Fässern, Flaschen und Weinregalen. Rot vor Zorn und Anstrengung lehnte er sich an die feuchte Wand.
»Wenn ich je den Herrn der Wildnis treffe oder den, der mich hier eingesperrt hat«, fluchte er, während er mit den Fäusten auf die festgestampfte Erde des Kellerbodens trommelte, »dann wird er mir das teuer bezahlen! Ich werde… ich werde… ach, ich werde einfach etwas tun, und zwar etwas Schreckliches!«
Er schloß die Augen und seufzte, denn er kam sich dumm und hilflos vor. Er war kein würdiger Nachfahre von Rittern. Bevor er sich bitter rächen konnte, bevor er den Schurken in die Enge treiben und gnadenlose, solamnische Gerechtigkeit üben konnte, mußte er einen Weg aus dem Haus seines Großvaters finden. Am Nachmittag sah es um nichts besser aus. Sturm durchwanderte die Gänge des Kastells und wurde mehr und mehr mit ihnen vertraut.
Langsam wich sein Ärger dem Hunger und der Angst. Der Burgbrunnen und die Zisterne im Sonnenzimmer lieferten ein bißchen Wasser, aber offenbar konnte man in einem Schloß ebenso leicht verhungern wie in der Wildnis oder in der Wüste. In dieser Nacht hielt ihn der Hunger wach, und er schlief so unruhig, daß er beim Erwachen nicht viel ausgeruhter war als beim Einschlafen.