Er warf einen letzten Blick auf Kastell di Caela, das Heim seiner Urgroßmutter und deren Geschlecht. Irgendwie erschien es unwirklich, wie ein Teil des Nebels, der ihn zu seinen Toren geführt hatte. Als er weiterritt, konnte er die zwei hohen Türme sehen. Zum Hauptturm gehörte der Burgfried und der Saal, in dem er den Geist von Sir Robert di Caela getroffen hatte – der war für ihn nicht mehr neu. Aber hinter diesem Turm lag der andere, der Katzenturm, in dem die Familie seiner Urgroßmutter ihre spleenigen Verwandten beherbergt hatte – manchmal auch die wirklich Wahnsinnigen.
Im obersten Fenster des Katzenturms leuchtete ein Licht, eine Fackel, die von einem blassen, älteren Mann in Prunkrüstung gehalten wurde. Selbst aus dieser Entfernung konnte Sturm das Wappen auf seinem Brustharnisch erkennen. Hellrote Blume auf weißer Wolke vor blauem Grund. Bonifaz war nicht weit hinter ihm. Daß Sturm aus dem Schloß entkommen war, hatte ihn überrascht. Er hatte gerade auf dem südwestlichen Erkertürmchen gedöst, wo seine blassen Augen am blassen Mond gehangen hatten. Er fluchte leise, um sich dann für diesen Fluch zu verfluchen, als der Junge sein Pferd bestieg und durch das Nordtor galoppierte, bevor er von der Mauer steigen und auch nur zum Stall gelangen konnte.
So findig hatte er den Jungen nicht eingeschätzt, der tatsächlich etwas von der Genialität der Feuerklinges in sich haben mußte. Wie sonst hätte er aus einem so fest verrammelten Schloß entkommen können?
Fürst Bonifaz Kronenhüter lächelte in sich hinein, während er sein Pferd aus dem Stall führte. Mit der selbstverständlichen Art eines Hauptmanns der Kavallerie schwang er sich geschmeidig in den Sattel und setzte Sturm und Luin nach. Der Hengst unter ihm fegte dunkel über die mondbeschienene Ebene.
Bald zügelte er ihn allerdings zum leichten Galopp. Es war nur eine Frage der Zeit. Schließlich hatte er vorgesorgt. Von hier bis zum Südlichen Finsterwald gab es noch einige Fallen. Und die nächste Überraschung war nicht mehr weit. In gestrecktem Galopp jagten Sturm und Luin nach Nordosten – oder das, was Sturm für Nordosten hielt – über die Solamnische Ebene. Mit jeder Veränderung des Horizonts sanken die Hoffnungen des Jungen. Wer hätte gedacht, daß Solamnia so weit war, so unvorstellbar groß?
Sturm schloß die Augen, während der Wind ihm um die Ohren pfiff. Also würde er nie zum Orden gehören.
Nachdem seine Panik schließlich abgeklungen war, zügelte er Luin zu leichtem Galopp. Da brachte die Luft ihnen von links den schwachen Schlammgeruch des Flusses.
Die Erforschung des Schlosses hatte seinen Orientierungssinn durcheinandergebracht. Er war nach Süden geritten, weg von der Furt und der Straße nach Lemisch. Das plötzliche Grün der solamnischen Steppe hatte Vertumnus’ grünen Pfad verschluckt, und der Junge war eine Stunde lang über eine Ebene ohne Anhaltspunkte galoppiert.
Sturm brachte Luin zum Stehen, stellte sich in den Steigbügeln auf und überblickte verzweifelt die vor ihm liegende Landschaft, die abgesehen von ein paar Ewigkeitsbäumen hier und einem einsamen Vallenholzbaum dort in jeder Richtung gleich aussah.
Er dachte daran, wie sein Versagen und die Verzögerung – vielleicht sogar sein Tod – die Fürsten Gunthar und Bonifaz enttäuschen würde. Er dachte an Derek Kronenhüters Hohn und seine Schadenfreude. Die anderen Pagen und Knappen würden sich das Maul zerreißen wie ein Rabenschwarm…
Wo sind die Vögel? Das war es! Wo sind die Vögel?
Sturm fuhr hoch und sah sich um, und seine Verwunderung wurde zu einer vorsichtig wachsenden Hoffnung. Denn in diesem Frühling in Solamnia sangen trotz der Wärme und der Gräser keine Vögel. Die Ebene war so still wie im Winter.
Noch einmal stellte sich Sturm in die Steigbügel. Am Rand seines Blickfelds, im Osten, wo der Geruch des Flusses herkam, sah er wieder Winter und etwas erstaunlich Vielversprechendes. Denn das Grün der Ebene wurde plötzlich braun, und der Nebel über dem Land war Winternebel, den das Sonnenlicht nicht auflösen konnte.
»Also… also ist immer noch Winter!« rief Sturm aus, der sich wieder in den Sattel setzte. Plötzlich erklang vor ihm frisch und lockend die Musik, die ihn über die Winterebene zog. Voller Überschwang spornte er sein Pferd an und trieb es in vollem Galopp nach Osten.
Er lächelte in sich hinein. Jetzt ging das Abenteuer erst los.
Luin schaukelte unter ihm, als sie auf ihrem Galopp durch bestellte Felder und Viehweiden über einen alten Zaun setzte. Die ganze Zeit spielte vor ihnen die Musik, lockte sie weiter, und hinter ihnen verwandelte sich das frühlingshafte Grün plötzlich wieder in das braune, eisverkrustete Land des Winters.
Sturm lachte. Von jetzt an war es leicht. Das war sein Gedanke, als er merkte, wie sein Pferd einknickte und strauchelte. Sie hatten noch Glück, daß sie sich nicht verletzten oder gleich zu Tode stürzten. Sturm hatte blitzschnell reagiert und die Stute so nachdrücklich gezügelt, daß sie sofort in Schritt fiel und dann stehenblieb. Er saß ab und untersuchte den Schaden an ihrem rechten Hinterhuf.
Das war kein Zufall gewesen. Da er sich mit Pferden ausgezeichnet auskannte, war ihm sofort klar, daß jemand einen, vielleicht auch mehrere Hufnägel gelockert hatte. Das Hufeisen hatte bei jedem längeren Galopp verlorengehen müssen.
»Warum nicht früher?« fragte er laut, während er die Stute auf ein Ewigkeitsbaumwäldchen zuführte, weil sie Schutz vor dem Wind brauchten, der wieder kräftig und winterlich geworden war. »Wir sind zusammen durch den Nebel gerast, vor diesem… diesem komischen Monster davon. Über viel unwirtlicheres Gelände als dieses. Warum hast du das Eisen nicht schon da verloren, Luin?«
Außer…
Der Junge schüttelte den Kopf. Jemand hatte das Eisen in Kastell di Caela gelockert. Derselbe jemand, der ihn eingesperrt hatte. Jemand, der ihm folgte und wollte, daß er zu spät kam.
Sturm lief in ungefähr östlicher Richtung weiter, während er verschiedene Möglichkeiten in Gedanken durchspielte. Luin folgte ihm am langen Zügel. Hin und wieder hielt sie an, um das trockene Gras abzurupfen. Wie die zwei jemals in den Südlichen Finsterwald gelangen sollten, war noch fraglich.
An diesem Nachmittag war die Musik, die aus dem smaragdgrünen Wäldchen vor ihnen drang, fast eine Erleichterung. Nachdem er die Stute festgemacht hatte, zog Sturm sein Schwert und drang in das Dickicht aus Wacholder und Ewigkeitsbäumen ein. Es war nicht Vertumnus, der da spielte, wie Sturm sich erhofft hatte. Allerdings wirkte das Mädchen, das die Flöte hielt, fast ebenso wild und wissend. Ihre Mandelaugen und die spitzen Ohren wiesen sie deutlich als Elfe aus, und die Malereien auf ihrem Körper waren die der Kagonesti.
Das war alles, was Sturm von jenem zurückgezogenen Waldvolk wußte. Denn die Kagonesti waren die seltensten aller Elfen. Die Wildelfen lebten nicht in Städten, wie ihre Vettern aus Silvanesti und Qualinesti. Sie gehörten kleinen Stämmen an oder durchstreiften die Wälder und Sümpfe von Krynn allein. Sturm war überrascht, daß eine von ihnen sich hier so lange zum Flötespielen niedergelassen hatte. Er senkte sein Schwert, duckte sich hinter eine kleine Tanne und beobachtete sie voller Staunen.
Die junge Elfe saß im Schneidersitz auf dem Strohdach einer kleinen Hütte inmitten des Wäldchens auf einer Lichtung. Ihre dunklen Haare glänzten im Mondlicht. Gegen den Wind und die Kälte hatte sie sich in Pelze gewickelt, aber eins der braunen Beine hatte sie provozierend ausgestreckt. Es war nicht von Polarfuchs oder Hermelin bedeckt, sondern mit grünen Kreisen und Spiralen bemalt. An den Lippen hielt sie eine silberne Flöte, auf der sie eine langsame, getragene Melodie spielte.
Wie hypnotisiert von dem Grün auf Braun und den kreisförmigen Schwüngen der Bemalung merkte Sturm, wie ihm der Atem stockte.
Über dem Mädchen bewegten sich die Tannenzweige im Wind, um sich dann anmutig zur Seite zu biegen, als ob sie dem Mondlicht erlauben wollten, sie zu einem geheimnisvollen, einzigartigen Zweck zu beleuchten.