Sturm unterdrückte ein Lächeln. Für ihn klang das märchenhaft, dieser dunkle Wohnsitz des Zauberers. Aber er hörte zu, wie Mara das traurige Ende der Geschichte vortrug.
Unter scheinbarer Hilfsbereitschaft hatte Meister Calotte offenbar seine eigene Neigung zu Mara verborgen. Er war ein alter Elf und, soweit das Mädchen gehört hatte, unaussprechlich häßlich, so daß er so wenig hoffen konnte, sie zu gewinnen. Dem alten Calotte hätte auch kein Zauber helfen können, denn das Haus der Mystiker konnte feststellen, ob ein Wesen bezaubert oder herbeigerufen oder anderweitig verzaubert war, und die Silvanesti erkannten eine durch Hexerei zustande gekommene Heirat nicht an. Aber mit Geschick und Umsicht schien dem alten Magier alles möglich.
»Es war leicht«, erklärte Mara wütend, als sie und Sturm nachmittags auf einer felsigen Anhöhe mitten in der Steppe Rast machten. »Leicht, einen vertrauensvollen Cyren, der verzweifelt zu ihm kam, zu betrügen. Leicht, jemanden, der freiwillig dazu bereit ist, in eine beliebige Kreatur zu verwandeln. Leicht war es auch für Cyren, an der Wand des Sternenturms bis zu dem Fenster hochzuklettern, wo ich wartete.«
Mara lächelte und streckte auf dem harten Boden die Beine aus. Sturm stand neben ihr und starrte über die Solamnische Ebene, wo er weit im Osten den Dunst und das Schimmern von Wasser zu erkennen glaubte. Waren sie in der Nähe des Vingaard, oder waren das jene Luftspiegelungen, von denen Reisende aus Burg Thelgaard oder der Stadt der verlorenen Namen immer wieder berichteten?
»Zuerst habe ich mich erschrocken. Wenn eine Spinne, die doppelt so groß ist wie du, auf deinem Fensterbrett auftaucht und dich zirpend hinauswinkt, wärst du auch vorsichtig.«
Sturm nickte. »Vorsichtig« war nicht das Wort, das ihm eingefallen war.
»Aber Cyren hat mir schnell zu verstehen gegeben, daß er keine gewöhnliche Spinne, sondern mein verwandelter Geliebter war.«
»Wie hat er das geschafft?« fragte Sturm, der sich ein Lächeln verbeißen mußte, denn er stellte sich vor, wie das Tier mit seiner schrillen, nichtmenschlichen Stimme Liebeslieder sang oder mit seinen Spinnweben Maras Namen schrieb.
»Er hat eine Art Leiter gesponnen. Ein Webgerüst, wie es die Druiden nennen, denn darauf spinnen die Tiere ihre Netze von Baum zu Baum. Es sind komplizierte Speichen und Spiralen. Aber dieses Webgerüst war nur eine Leiter. Sie führte von meinem Fenster aus sechzig oder siebzig Fuß am Turm hinab in die Tiefe, in die dunklen Äste darunter. Bei Branchala, hatte ich eine Angst!« lachte sie.
»Es war eine mondlose Nacht, so daß ich ungesehen herunterklettern konnte, doch daher habe auch ich nichts gesehen. Als ich einen Fuß unter den anderen setzte, war es, als würde ich durch Giftschlangen waten, aber das nächste, was ich weiß, ist, wie meine Füße das Gras des Waldes berührten und Cyren nach Westen zum Turm von Waylorn stürmte. Er hielt an, drehte sich um und spann einen Faden hinter sich, den ich aufhob, um ihm zu folgen wie… wie deine Stute dem Zügel.
So liefen wir durch den Wald. Kein Auge sah mich, kein Ohr hörte mich, bis wir den Thon-Thalas überquerten, durch ein Waldstück kamen, das ich nicht kannte, und eine Lichtung vor dem Turm erreichten.«
Sie erschauerte bei der Erinnerung daran.
»Sofort als ich sah, daß der Zauber von Meister Calotte stammte«, sagte sie, »fürchtete ich um uns – besonders um den armen Cyren. Denn ich hatte auch die Blicke des Zauberers schon bemerkt, die mir das Blut in den Adern gefrieren ließen, und ich befürchtete, daß seine Hilfe uns teuer zu stehen kommen würde. Und so erfuhren wir auch augenblicklich, wie wir bezahlen sollten.«
Mara stand auf. Indem sie Luins Zügel aufnahm, zeigte sie Sturm, daß die Rast vorbei war und daß es Zeit zum Weiterwandern war. Sie gingen den Hügel hinunter, gefolgt von der munteren Luin und dem Rascheln der Spinne im hohen Gras, während das Elfenmädchen den letzten, dunkelsten Teil der Geschichte erzählte.
»Wie du dir sicher denken kannst, Solamnier, weigerte sich der Zauberer, Cyren zurückzuverwandeln. Er saß bequem in der Astgabel einer Eiche, die so schwarz und verfault und düster war wie sein eigenes Herz.
›Mara‹, sagte er, ›meine süße Mara. Du weißt genau, wie Prinz Cyren wieder die Gestalt annehmen kann, die du so liebst, und du kennst den Preis sehr genau.‹«
»Schuft«, murmelte Sturm.
»Cyren hätte ihn an Ort und Stelle angegriffen!« rief Mara aus. »Er hätte ihn in Stücke gerissen und kaltes Gift in seine Wunden geträufelt, wenn ich ihn nicht zurückgehalten hätte. Aber der Tod von Meister Calotte, so glaubten wir, würde den armen Cyren für immer in die Gestalt einkerkern, in der du ihn heute siehst.«
Sturm warf einen zweifelnden Blick auf die Elfe. Nachdem er selbst mit Cyren gekämpft hatte und gesehen hatte, wie das Tier plärrend in den Wald geflüchtet war, fragte er sich, ob es Mara wirklich schwergefallen war, das rachedurstige Wesen aufzuhalten.
»Inzwischen«, sagte Mara, »sind wir schlauer. Aber damals verließen wir Silvanesti, weil es für uns beide kein sicherer Ort mehr war. Ich hatte schließlich dem Willen des Königshauses getrotzt, genau wie der arme Cyren. Doch sein Schicksal war schlimmer, denn seine neue Gestalt machte ihn zur Beute für jeden Jäger von der Hecke bis zur Bucht von Balifor.
Zwei Jahre wanderten wir umher, stets auf der Suche nach einem Weg, den Zauber von Meister Calotte aufzuheben. Wir reisten zu Zauberern und Schamanen, im Süden bis nach Eismauer, im Westen bis zum Turm von Wayreth in Qualinesti, dann auf einem anderen, schwierigen Weg durch Bloten und Zhakar und Khurikhan zurück, wo Elfen und Spinnen gleichermaßen unerwünscht sind. Im dritten Jahr hielten wir uns in den Ebenen von Abanasinia auf, wo wir eine Zeitlang beim Stamm der Que-Shu lebten. Ihre Seherin, die Häuptlingstochter, war noch ein Kind, doch sie hatte die Fallsucht und erlebte tiefe Trancen, in denen die Prärie zu ihr sang und die Sterne sich über ihr zu Spirale und Harfe formten.«
»Wahre Prophezeiungen also«, stellte Sturm fest.
Mara nickte. »Diese… diese Goldmond«, fuhr sie fort, »sagte uns, daß der Zauber nur durch Musik zu brechen sei, wenn die Monde sich genau über diesem Ort in der Solamnischen Ebene vereinen würden.
Also warteten wir hier, Cyren und ich. Es verging über ein Jahr. In dieser Zeit lernte ich, auf der Flöte zu spielen, die das Mädchen mir gegeben hatte, und die Monde liefen durch die Zeichen von Hiddukel, von Kiri-Jolith, vom dunklen Morgion – immer auf dem Weg zu der einen Nacht, der Krönung eines fünfjährigen Kreislaufs, in der die Monde sich im Zeichen der Mishakal vereinen und heilende Veränderung möglich wird.«
Mara blieb auf dem Weg nach unten stehen. Sturm ging noch ein paar schwere Schritte weiter, denn das Bündel auf seinen Schultern lastete schon wieder auf ihm. Schließlich blieb er stehen und drehte sich um, weil er weder Stimme noch Schritte von ihr hörte.
Zornig und klein im Licht des frühen Nachmittags stand sie da. Verzweiflung malte sich auf ihrem Gesicht, und obwohl ihre Wut auf Sturm beim Erzählen irgendwie verflogen war, sah sie ihn mit erneut wachsendem Ärger an.
»Diese Nacht«, sagte sie kalt, »diese überaus glücksverheißende Nacht, in der die Monde sich vereinen und die Musik erklingt und der Zauber sich hebt – diese Nacht war gestern!«
Schroff zog das Elfenmädchen, dessen Gedanken offensichtlich anderswo waren, an den Zügeln und ging weiter den Hügel hinunter. Luin, die aus ihrer Trägheit gerissen war, schnaubte und folgte ihr. Sturm ging den beiden voran und grollte innerlich.