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»Schöne Worte werden dir nichts nützen, Vertumnus«, drohte Gunthar, ohne auf die Beleidigung einzugehen.

Der Herr der Wildnis lachte nur. Nachdem er unter Rüstungsgeknarr und Blättergeraschel aufgestanden war, wedelte Vertumnus mit seiner Flöte zu dem leeren Stuhl am vordersten Tisch. Es war eine skurrile Geste, die unpassend, ja, obszön wirkte. Den älteren Rittern verschlug es den Atem, und viele von den jüngeren griffen zum Schwert. Ruhig und ohne Eile drehte sich Vertumnus geschmeidig um, wobei er die Flöte wie einen Säbel schwang. Es gab ein gespenstisches Pfeifen, als er sie durch die Luft zog, und Sturm sah fasziniert zu.

»Was ich sagen will, ist dies: Es gibt einen leeren Platz«, stellte Vertumnus fest. »Nicht für einen Gast, einen Bettler, ein Waisenkind, einen Fremden – nicht für einen von denen, die ihr eurem Eid zufolge schützen und verteidigen sollt. Und der Platz ist nicht nur heute leer, sondern immer. Ein Platz für den Gecken und Laffen.«

Fürst Alfred Merkenin funkelte Vertumnus an, der unbeirrt fortfuhr.

»Denn der Eid, den ihr in diesem Hort von Schwüren geleistet habt«, erklärte Vertumnus, dessen wilde Augen auf den leeren Stuhl geheftet waren, »ist düster und ernst und weise in den Tiefen der Nacht. Aber ihr befolgt ihn freudlos. Das zeigt selbst dieses Fest.«

»Wer bist du, Fremder, daß du uns über unsere Freuden und Feste belehrst?« brauste Fürst Alfred auf. »Ein Ding aus Blättern, Fetzen und Lumpen, das von dem Stuhl für Huma spricht?«

Gunthar und Stephans Mienen gaben im unsteten Licht keinen ihrer Gedanken preis. Auf einmal trat Fürst Alfred um seinen Tisch herum, zeigte auf den grünen Mann und redete in dem Ton zu ihm, der normalerweise Pferden, Handlangern und unwissenden oder unbelehrbaren Knappen vorbehalten war.

»Wer bist du, daß du unsere Bräuche in Frage stellst, die tausend Jahre, die wir auf unsere Träume warten? Du – du wandelnder, trötender Salat!«

»Alter!« gab Vertumnus zurück, der mit einem Satz kurz vor dem Hofrichter gelandet war. »Du leerer, vergoldeter Brustharnisch! Du hirnloser Helm, du schlaffe Fahne! Du Maske von Gesetz, du Mangel an Gerechtigkeit! Du Zählstab! Du sturer Esel, der seine Nase in Briefe steckt und auf einer toten Ebene nach Ehre sucht! Wenn dich ein prophetischer Wind erfaßte, so hieltest du ihn für das Furzen deiner Brüder!«

Sturm schüttelte den Kopf. Diese merkwürdigen Beschimpfungen waren zu verdreht, fast schon kindisch, als fände hier ein Bardenduell statt, oder, schlimmer noch, zeterten die Vögel auf den Dächern. Fürst Alfred Merkenin war der Hofrichter des solamnischen Ordens, dem man sich respektvoll, ehrerbietig und pflichtschuldigst zu nähern hatte, aber der grüne Mann ließ Worte auf ihn herabregnen, daß der Hofrichter nur noch sprachlos dastand, ins Wanken geriet und verstummte.

Rings um Sturm hüstelten seine Kameraden und blickten betreten zur Decke. Für eine Bande Jungs, die gern die Kräfte maßen, waren auch sie merkwürdig still. Gelegentlich brach ein vorsichtiger Lacher aus den Schatten, aber kein Knappe wagte es, die anderen anzusehen, und keiner wagte ein Wort.

Jetzt trat Fürst Stephan vor, dessen Augen mit einem Mal amüsiert aufblitzten. Sturm runzelte die Stirn, denn der alte Mann war schon selbst ein halber Wilder, wenn er die jungen Ritter aufzog, weil sie sich so streng an den Eid hielten, und wenn er über die endlosen Spitzfindigkeiten des Maßstabs lachte, wo selbst für den jüngsten Solamnier Sprache und Tischmanieren verewigt waren.

Es war eine Folge der Kopfwunde, die er vor sechzig Jahren in einem finsteren Paß von Neraka erlitten hatte. Seit damals war er anders und oft respektlos. Er schien diesen schrillen Wortwechsel zu genießen, und Sturm stellte mit wachsender Beklemmung fest, daß der alte Mann sich räusperte.

»Was willst du von uns, Herr der Wildnis?« fragte der Alte, dessen Stimme trotz seiner fünfundachtzig Jahre noch laut und fest klang. »Was willst du von uns, wenn wir Heuchler und maskenhafte Gesetzeshüter sind? Ich sehe weder Witwen noch Waisen bei dir. Was hast du für die Armen, die Ausgestoßenen und die Unglücklichen getan?«

»Ich habe dich dazu gebracht, diese Frage zu stellen«, erwiderte Vertumnus mit schlauem Lächeln. »Du bist ein alter Fuchs, Stephan, mit mehr Weisheit gesegnet als der Rest dieser hier versammelten Hohlköpfe. Und doch läuft der alte Fuchs in seinen eigenen Fußstapfen zurück, folgt seiner eigenen Fährte, bis er den Wald umkreist und im Nichts verschwindet.«

»Bilder statt Taten, Herr der Wildnis?« fragte Stephan, dessen weißer Bart sich wie Nebel hob, als er sich ächzend und mit knackenden Knien direkt vor dem grünen Mann aufbaute, der weder mit der Wimper zuckte noch zurückwich.

»Was ich für Waisenkinder tue, geht euch nichts an«, antwortete Vertumnus ruhig, »denn das ändert nichts an den zerfallenen Ländereien von Solamnia, den verlassenen Dörfern, den Bränden, den Hungersnöten und den neuen, unbekannten Drachen. Kein Waisenkind hier würde mich in Frage stellen. Nein, es würde in meine Klage einstimmen.«

Er machte eine Pause, in der seine dunklen Augen den Raum absuchten.

»Das heißt, falls eines hier wäre.«

Du irrst dich, Herr der Wildnis, dachte Sturm, dem es in den Füßen juckte vorzutreten.

Aber nein. »Waisenkinder«, hatte er gesagt.

»Außerdem«, fuhr Vertumnus fort, »ich habe nicht geschworen, sie zu beschützen.«

Eine Fackel flackerte spuckend in dem Halter neben Sturm Feuerklinge auf, während Vertumnus wieder die Flöte an die Lippen setzte.

Seine Melodie schwebte traurig und gespenstisch durch den Saal, und Sturm vermeinte, darin etwas von Herbst und Sterben und einer Zeit zu hören, die unmöglich vergangen sein konnte. Es war eine dünne, melancholische Musik, und die toten Blätter trieben wie Geister in Gelb, Schwarz und grellem Rot durch die Halle, als würden sie vor einem Zauberer flüchten.

Er ist ein Zauberer, dachte Sturm. Er redet doppeldeutig und in Rätseln. Hör ihm nicht zu. Hör nicht zu.

Vertumnus trat noch einen Schritt vor. Er stand unmittelbar vor dem alten solamnischen Fürsten, und ihre Blicke trafen sich ohne Zorn, und sie wechselten ihre Worte so leise, daß selbst Fürst Alfred, der keine zwei Schritte von Fürst Stephan entfernt war, später schwor, er hätte nicht verstanden, was sie sagten. Dann wich der grüne Mann ein wenig zurück und lachte, und aus Fürst Stephan Peres sproß unvermittelt Blattwerk.

Schößlinge, Ranken und Zweige schmückten die Rüstung des alten Mannes, Blätter drangen durch seinen Bart, und Ranken verstrickten sich mit seinen Fingern. Vertumnus trat in die Mitte des Saals zurück und spielte wieder auf seiner Flöte, diesmal eine fröhliche Sommerweise, woraufhin der elegante, alte Herr, der lange Jahre als Haushofmeister den fehlenden Oberkleriker ersetzt hatte, jetzt lieblich in hundert blauen Blümchen erblühte und ein Schwarm gelber Schmetterlinge aus dem Nichts von den winterlichen Dachsparren heruntersank und sich auf Fürst Stephan Peres niederließ.

»Das reicht!« rief Fürst Gunthar aus und trat mit erhobenen Fäusten vor, doch die Beine seines Tisches schlugen ebenfalls aus, und knorrige Wurzeln schlängelten sich vor, wickelten sich um seine Knöchel und hielten ihn auf seinem Weg zur Saalmitte auf. Stephan machte ein Zeichen, aber dessen Bedeutung ging zwischen den Blumen verloren. Vertumnus wich dem angreifenden solamnischen Fürsten gewandt aus, als Gunthar gegen einen Tisch rannte, an dem die Brüder Jeoffrey saßen. Gläser, Geschirr und die Jeoffreys stoben nach allen Seiten auseinander. Der junge Jack, der offenbar auf der Suche nach den besseren Resten des Banketts unter den Tisch gekrochen war, brachte sich eilig in Sicherheit, als der Tisch zusammenbrach und dann im Boden Wurzeln zu schlagen begann. Aus den dunklen Brettern drangen Knospen und Äste hervor.