Die es nicht verstehen würden.
Fürst Bonifaz Kronenhüter war schon einmal mit Zeugen fertiggeworden. Damals war es ein lästiger Ritter aus Lemisch gewesen, der sich erst kürzlich dem Orden und dem Maßstab angeschlossen hatte.
Der hatte auch nichts begriffen, und was dann geschehen war, war merkwürdig, häßlich, beinahe verhängnisvoll gewesen.
Also durfte es keine Zeugen geben, dachte Bonifaz lächelnd. Es würde noch andere Gelegenheiten geben. An der Furt und im Dorf…
Er stand auf, bestieg sein Pferd und ritt nach Osten. Die Hufschläge seines schwarzen Hengstes wurden vom strömenden Regen übertönt. Sie brachen am nächsten Morgen auf, als der Regen aufhörte. Sturm und Jack gingen vor; sie führten die Pferde. Mara ritt auf Eichel, Jacks gedrungener brauner Stute, die auch leicht, wenn auch nicht begeistert, das Gewicht der Habe der Elfe trug. Hinter diesem Troß huschte Cyren, die Spinne, zwischen großen Steinen und hohem Gras hin und her und wich der Sonne aus, so gut es ging.
Auf Jacks Rat hin strebte Sturm nicht mehr zu der berühmten Furt bei Burg Vingaard. Wenn – wie er allmählich argwöhnte – an Jacks Warnung über die Fallen von Fürst Bonifaz etwas Wahres dran war, dann würden alle wichtigen Furten gefährlich sein.
Statt dessen hielt die Gruppe in östlicher Richtung auf ein kurzes Stück Fluß zu, wo Jack zufolge das Schwimmen so ungefährlich war wie die Furt. Hoch über ihnen schossen die Eisvögel durch die Luft, und wenn er auf Omen geachtet hätte, hätten die alten solamnischen Symbole auf Flügeln Sturm viel Mut machen können.
Trübsinnig trottete er neben dem jungen Gärtner her. Nicht genug, anscheinend, daß er gegen jemand, der so mächtig und erfahren war wie Vertumnus, sowieso zum sicheren Versagen verdammt war, jetzt lauerte ihm auch noch der beste Schwertkämpfer von Solamnia auf, falls er wundersamerweise seine Begegnung mit dem grünen Mann überleben sollte.
Das heißt, falls er Jack Derry glauben durfte. Es schien absurd – wie mitten aus einer uralten Geschichte über Blut, finstere Schwüre und Rache. Bonifaz war ein Freund seines Vaters. Angriff hatte ihn vor Fürst Tück gerettet, war mit ihm aufgewachsen. Sie hatten gemeinsam gekämpft, hatten gelernt, gelitten und an Weisheit gewonnen… und…
Schließlich waren da noch Eid und Maßstab.
Es konnte nicht wahr sein. Bonifaz konnte kein Verräter sein.
Sturm strich Luin mit dem Handschuh über den Hals. Ganz langsam kehrte das Gefühl in seine Finger zurück, so daß er an andere Dinge denken konnte – an die wenigen verbleibenden Tage und den langen Weg, der noch vor ihm lag. Der Weg führte die Wanderer durch saftiges Weideland im Norden der alten Festung von Solanthus. An manchen Stellen begann der Boden schon grün zu werden, und die ersten Zugvögel waren aus ihren Winterquartieren im sonnigen Norden zurückgekehrt. Durch diese Frühlingszeichen konnte Sturm meilenweit über die Ebene nach Süden blicken und die berühmte Festung sehen, die sich grau und dunstig am äußersten Horizont erhob. Es war ein sagenumwobener, geschichtsträchtiger Ort, genau so einer, wie Sturm ihn gern besucht hätte. Doch er wagte es nicht, näher heranzugehen, nach allem, was Jack Derry ihm berichtet hatte. Bonifaz konnte überall auf der Ebene lauern und seine Verbündeten sowieso dazu.
Seufzend zog Sturm an Luins Zügel.
»Warum so bedrückt, Meister Sturm?« fragte Jack, der Eichel geschickt um kleine Tümpel herumlenkte, die ein Zeichen für gefährlichen Untergrund sein konnten. »Seid doch froh, daß wir den Regen hinter uns haben!«
»Es wird so schnell Frühling, Jack Derry«, erwiderte Sturm. »Zu schnell für meinen Geschmack, fürchte ich. Nur noch eine Woche, bis ich mich im Finsterwald dem Herrn der Wildnis persönlich stellen muß.«
»Seht Euch um, Meister Sturm«, stellte Jack gelassen fest. »Wo ist Vertumnus, und wo ist der Haken und die Leine, an denen er Euch nach Osten zieht?«
»Das verstehst du nicht«, protestierte Sturm. »Da wäre zunächst die Wunde. Ich weiß, im Turm lachen sie darüber. Sie sagen, ich hätte mir meine Verwundung eingebildet, aber sie ist da, bei Paladin! Aber was viel wichtiger ist, das ist die Ehre im Zweikampf. Ich kann nicht anders. Du kennst das nicht, Jack. Für Gärtner gibt es keinen Maßstab.«
Jack lächelte seltsam und rieb sich das Kinn.
»Keinen anderen als die Sonne, die Monde und die Jahreszeiten«, entgegnete er. »Ich bin dankbar, daß ich sie habe.«
»Und ich für den Maßstab«, sagte Sturm etwas übereilt. »Und… und natürlich für diesen herrlichen Tag.« Er sah sich um und versuchte, eine fröhliche Miene aufzusetzen. »Das ist ein milder Winterausklang, Jack. Kein Frost, und die Vögel kommen schon zurück. Mild wie der Frühling von Fünfunddreißig, möcht’ ich wetten.«
Wenn die Bauern einen milden Frühling erwähnten, verwiesen sie auf das Jahr 335. Sturm erinnerte sich gut daran, obwohl er erst zehn gewesen war: Wie Schnee und Eis getaut waren und die Blumen in den Gärten von Schloß Feuerklinge erblüht waren.
»Mild ist er, Sir, auch wenn ich von Dreifünfunddreißig nichts weiß«, sagte Jack und zeigte nach Osten. »Am besten übernachten wir in dieser Gegend«, schlug er vor. »So nah an der Festung sind wir sicherer, was Räuber und Banditen angeht.«
Jack sah Sturm ernst an.
»Es wäre mir lieber, Meister Feuerklinge wäre nicht überrascht«, warnte er, »wenn er herausfindet, wie die Menschen auf dem Land auf seinen Eid und den Maßstab reagieren.« Der Abend verlief ruhig, was Mara, ganz besonders aber Sturm, enorm erleichterte. Zum ersten Mal seit fast einer Woche schlief er den gesunden Schlaf eines jungen Mannes, weil er genau wußte, daß Jack Derry über ihr Lager wachte.
Der Gärtner hatte etwas an sich, daß nach einer Art blindem Vertrauen schrie. Sturm hatte es bei dem langen Tagesmarsch gespürt, als Jack aus dem Umspringen des Windes las wie ein Schwertkämpfer aus den Finten und Angriffen seines Gegners. Jack war ein zuverlässiger, ja, ein geborener Waldläufer, aber das war der gefährliche Mann, zu dem Sturm zum Duell ritt, zweifellos auch.
Sturm beobachtete, wie Jack das heruntergebrannte Feuer versorgte, betrachtete das gedämpfte, rote Licht, das Schatten auf seine Hände und sein Gesicht warf. In diesem Licht wirkte der Gärtner beunruhigend vertraut, als wenn sie sich schon das ganze Leben kennen würden.»Seht genau hin, Meister Sturm und Lady Mara, dann seht Ihr die südlichste Gabelung des Vingaard«, sagte Jack.
Sturm stand auf Zehenspitzen und stützte sich an Luin ab, als er nach Osten blinzelte, wo die Luft weit, weit hinten zu flirren schien. Mara, die auf Eichel saß und mit scharfen Elfenaugen nach Osten schaute, nickte sofort, als Jack sie auf die Stelle hinwies.
»An dieser Gabelung ist es ein Kinderspiel«, fuhr der Gärtner mit boshaftem Grinsen fort. »Eure Spinne könnte glatt hundert Briefchen in ihren grünen Booten rüberschicken.«
Mara versank hinter ihnen in kaltes Schweigen. Sturm unterdrückte ein Lächeln. Bestimmt bereute sie es, ihre Geschichte überhaupt erzählt zu haben, besonders so scharfen, satirischen Ohren wie denen des Gärtners.
»Wie ich Euch beiden erzählt habe, als wir diesen Weg einschlugen, ist Schwimmen in dieser Gegend so gut wie eine Furtüberquerung. Der Fluß fließt langsam, und das Ufer ist auf beiden Seiten flach. Etwa eine Stunde später sind wir dann in Lemisch, und dann ist es nur noch ein Tag bis Dun Ringberg, wenn das Wetter mitspielt und die Banditen uns in Ruhe lassen.«
Tadelnd sah er Sturm an.
»Ich denke, Meister Sturm Feuerklinge«, sagte Jack, der sich das braune Haar aus der Stirn strich, »es wäre klüger, wenn Ihr einen Teil Eurer Rüstung ablegen würdet. Durch einen Fluß zu schwimmen, auch wenn er langsam fließt, geht leichter ohne vierzig Pfund Kettenhemd.«
Sturm wurde rot über seine Gedankenlosigkeit, zog den Brustharnisch aus und legte ihn mit dem Schild auf Luins wenig bepackten Rücken. Jack sah ihn mit trockener Belustigung an.