Der kleinere Hobgoblin, ein zahnlückiger, gelbgrüner Schurke, der nach Aas stank, stürzte sich immer wieder auf Sturm. Jedesmal parierte der Junge seine Schläge, doch jedesmal wurde er auch weiter zurückgedrängt, immer weiter, bis er merkte, wie seine Füße im Schlamm des Flußufers zu rutschen begannen. Verzweifelt warf er sich nach vorn, glitt schnell unter dem ausgestreckten Schwert des Räubers durch und stieß sein Schwert unter dessen ledernen Brustpanzer, während sein Gesicht an dem seines Feindes klebte. Die gelben Augen des Hobgoblins wurden groß und glasig, als Sturm ihn wegstieß, das Schwert aus seinem Bauch zog und sich seinem größeren Kameraden stellte.
Der große Goblin, dessen Keule so lang war wie Sturms Bein, schlug mit seiner Waffe krachend ins hohe Gras, als Sturm gekonnt beiseite sprang. Einen Augenblick war er in Narbenlippes Wurfbereich, und der hagere Mann trat vor, um anzugreifen. Aber Sturm sprang auf die andere Seite des großen Hobgoblins, der wieder seine Keule erhoben hatte.
Wieder und wieder schlug das Ungetüm mit seiner Waffe zu, doch jedesmal war Sturm viel zu schnell, seine Bewegungen viel zu unberechenbar. Hinter diesem seltsamen, mörderischen Tanz wurde Narbenlippe immer ungeduldiger. Wenn er den großen Banditen beobachtete, sobald er den angreifenden Hobgoblin kurz aus den Augen lassen konnte, sah Sturm den Mann vortreten, einen Wurf ansetzen und dann ärgerlich aufstampfen, wenn sein Ziel wieder in Sicherheit sprang.
So hätte es weitergehen können, bis Sturm müde wurde und die Keule oder der Wurfdolch ihr Ziel fanden, wenn Narbenlippe nicht zu ungeduldig geworden wäre. Mit frustriertem Aufschrei schleuderte der große Bandit seinen ersten Dolch.
Er senkte sich in den Rücken des Goblins, der mit dem Gesicht nach vorn in den Fluß fiel. Narbenlippe hatte einen zweiten Dolch parat, den er auf Sturm warf, der keuchend und sprachlos vor Überraschung und Müdigkeit dastand.
Sturm sah, wie der Räuber den Arm hob und vorschnellen ließ, so daß der Dolch wie ein Komet durch die Luft blitzte. Dann traf Sturm etwas von der Seite, und er fiel hin, worauf das Messer an seinem Ohr vorbeisauste.
Jack Derry kniete mit dem Schwert in der Hand über ihm.
»Bleib unten, Jack!« rief der junge Gärtner, der dann herumfuhr, um Narbenlippe anzugreifen.
Benommen und ausgepumpt versuchte Sturm aufzustehen, was ihm jedoch nicht gelang.
›Jack?‹ dachte er. Wieso nennt er mich Jack? Aber es war keine Zeit für Erklärungen. Jack Derry rannte auf Narbenlippe zu, der einen neuen Dolch zog und ihn genau auf Jacks Bauch warf. Jack zog mit fast unnatürlicher Schnelligkeit seine eigene Klinge vor den Körper, um das Geschoß perfekt abzuwehren. Narbenlippe drehte sich um und wollte davonrennen, aber dann bäumte er sich plötzlich auf, denn ein Dolch flog über Sturms Kopf und bohrte sich in den Rücken des großen Räubers. Nachdem sie schnell wie eine Hirschkuh an Sturm vorbeigesprungen war, zog Mara Jack einen Dolch aus dem Gürtel und nahm neben dem Gärtner den Kampf auf.
Völlig erschöpft stand Sturm auf. Er sah zum Fluß, wo sieben tote Räuber lagen, die Jacks schwindelerregender Schnelligkeit und Tapferkeit zum Opfer gefallen waren. Aber weiter hinten kamen zehn oder gar zwölf weitere, die ihre Schwerter schwenkten und in der rauhen Sprache von Neraka schrien.
»Verschwinde hier, Jack!« rief Jack Sturm zu, der befremdet auf ihn zu taumelte.
»Und nimm sie mit«, sagte er mit einem Nicken zu Mara. »Nur die Götter wissen, was sie mit ihr anstellen würden!«
»A-aber-«, fing Sturm an, wurde jedoch unterbrochen. Jack wollte nichts mehr hören.
»Los, Jack!« schrie der Gärtner, so laut er konnte, und schüttelte zum Nachdruck seine dunklen Haare. »Beschütze diese Frau – und vergiß nicht, die Eichel fällt nicht weit vom Stamm!« Er machte drohend einen Schritt auf Sturm zu und hob sein Schwert. Sturm, der jetzt überzeugt war, daß sein Begleiter verrückt geworden war, wich zurück, als Mara auf ihn zu rannte, ihn am Arm packte und ihn nach Süden am Ufer entlang zog.
»Mach schnell, Sturm!« flüsterte sie, während sie ihn mit aller Kraft über eine Wurzel zerrte. »Jetzt kannst du mich endlich retten!«
Völlig durcheinander warf Sturm einen letzten Blick auf den mutigen Gärtner und drehte sich um.
Obwohl er nicht gerade ein Held war, hatte sich Cyren wenigstens darum gekümmert, die Pferde das Ufer hoch zu treiben. Aufgeregt zertrampelten sie das hohe Gras, während ihre groben, rollenden Augen wieder und wieder zu der lauernden Spinne gingen. Sturm schwang sich auf Eichel und hob Mara zu sich hoch; sie wiederum hatte Luins Zügel ergriffen und zog das große solamnische Pferd hinter sich her. Als hätten sie die Flucht monatelang geplant, bewegten sich Eichels kurze Beine schnell und zielstrebig, während sie außer Schußweite und schließlich außer Hörweite trabte.
Sturm sah sich ein letztes Mal um, bevor die Äste und Büsche ihm den Blick zum Fluß versperrten. Der tapfere Jack stand lächelnd zwischen den Nadeln, den Zweigen und den frischen Blättern. Er reizte die Räuber, indem er sein Schwert schwang und auf eine merkwürdig dreiste Art herumtanzte, die Sturm irgendwie unklar an etwas erinnerte.
Fürs erste hielten sich die Räuber zurück. Jack hatte ihnen gezeigt, was er mit seiner Waffe vermochte, und keiner von ihnen wollte seine Schwertkunst als nächster auf die Probe stellen.
Aber das würde nicht lange dauern. Sturm schüttelte den Kopf und wurde traurig, als er sich dem vor ihm liegenden Weg zuwandte, um Jack Derry allein zurückzulassen. Wäre Mara nicht dabei, würde er Seite an Seite neben dem Gärtner kämpfen und die Nerakaner und Hobgoblins besiegen oder ihnen bis zum Ende trotzen. Aber sie war hilflos und zerbrechlich und…
»Schau auf den Weg, Solamnier!« befahl das hilflose, zerbrechliche, kleine Ding, das ihn am Ohr riß, damit er wieder achtgab. »Jack Derry riskiert doch nicht seinen dummen Kopf, damit du uns den Hals brichst!« Eine Stunde lang ritten sie schweigend, jeder in seine eigenen Gedanken versunken. Obwohl Sturm den Gärtner kaum kannte, trauerte er sehr um ihn. Er versteckte sein Gesicht dabei in den dunklen Falten seiner Kapuze. Dennoch war seine Verwirrung ebenso groß wie die Trauer.
»Jack«, sagte er schließlich zu Mara. »Warum hat er mich Jack genannt?«
Das Elfenmädchen zog die Pelze, die es bedeckten, enger zusammen. Mondlicht floß über die silberne Flöte in ihrer Hand. »Damit sie ihn angreifen und nicht dich, du Einfaltspinsel«, antwortete sie und hob die Flöte an die Lippen.
»Das verstehe ich nicht, Mara«, sagte Sturm, der die ersten Töne der Musik unterbrach.
»Erinnerst du dich an die Fallen und Hinterhalte, von denen Jack dir erzählt hat? Die dieser Bonito – «
»Bonifaz«, unterbrach Sturm. »Fürst Bonifaz von Nebelhafen.«
»Bonifaz, Bonito…«, meinte Mara wegwerfend. »Wer auch immer versucht hat, dich aus dem Weg zu räumen. Meiner Meinung nach hat Jack gedacht, die Räuber wären eine dieser Fallen.«
»Und daß er mich Jack nannte…«, fing Sturm an, dem es allmählich dämmerte.
»Hieß, daß der andere junge Mann der Mensch war, den sie suchten«, sagte Mara. »Der, der dumm und solamnisch genug sein würde, sie alle aufzuhalten, damit wir entkommen können.«
»Also hat Jack sich… sich für mich ausgegeben!« rief Sturm aus, der vergeblich versuchte, Eichel wieder auf den Weg zu lenken.
»Sind alle Feuerklinges so begriffsstutzig?« fragte Mara ironisch. »Paß auf dein Pferd auf, Meister Sturm, bevor es uns noch bis ganz nach Neraka schleppt!« Die Dunkelheit kam rasch und plötzlich, wie so oft gegen Ende des Winters. Sie waren durch hohes Gras und über die Äcker gestreift, immer vergeblich auf der Suche nach dem Weg nach Dun Ringberg. Westlemisch war offenbar so konturlos wie das Gesicht eines Mondes, und genauso gastfreundlich.