Alles schien möglich, sogar wahrscheinlich. Er spürte das aufgeregte Kribbeln des Abenteuers. Er setzte sich im Sattel zurück, wobei er die schlafende Mara anstieß, die murmelnd ihre Arme fester um seinen Bauch legte. Einen Augenblick lang schien es, als wäre er für diese Reise geboren.
Er bemerkte die Männer erst, als sie wie Nebel aus dem hohen Gras auftauchten – plötzlich, schnell, ruhig und überlegt. Der Anführer, ein brauner, verhutzelter, kleiner Kerl, hob lächelnd die Hand.
»N’Abend, Sturm Feuerklinge!« rief er in fließender Gemeinsprache, jedoch mit deutlich lemischem Akzent.
Guter, alter Jack Derry, dachte Sturm bewundernd. Zu Fuß so schnell wie mit dem Schwert. »Holla!« rief er und sprang vom Pferd. Und dann, mit etwas mehr solamnischer Förmlichkeit: »Mit wem habe ich die Ehre?«
»Hauptmann Duir von der Miliz von Dun Ringberg, Sir!« verkündete der hutzelige, kleine Mann, dessen Strammstehen seltsam komisch wirkte. »Ernannt zum Schutz der Westgrenze.«
Sturm sah sich belustigt zu Mara um, die sich augenreibend im Sattel zurechtsetzte.
Sturm stieg ab, zog seinen Handschuh aus und streckte in guter, solamnischer Tradition die Hand aus. Scheu und verlegen reichte Hauptmann Duir ihm die Hand, und die beiden Männer begrüßten sich als Gleichgestellte.
Sturm nickte dem Bauernsoldaten lächelnd zu, der zaghaft zurücklächelte, während er die blauen Augen merkwürdig amüsiert zusammenkniff.
»Meister Sturm Feuerklinge von Solamnia«, erklärte der Hauptmann, dessen Griff um Sturms Hand fester wurde, »im Namen der Druidin Ragnell verhafte ich Euch als Eindringling!«
13
Rücktritt voller Erinnerung
Jetzt konnte er zum Turm zurückkehren. Von den höchsten Ästen eines fernen Vallenholzbaumes beobachtete Bonifaz mit einem Fernrohr, wie Sturm festgenommen wurde. Er sah, wie der Junge die Hand ausstreckte, wie der Hauptmann sie ergriff, wie die freundschaftliche Geste steif wurde und wie die Miliz sie alle abführte, die Pferde, die kleine Elfe und Feuerklinge. Alle nach Dun Ringberg, wo die alte Druidin einem wütenden Tribunal vorstehen würde.
Der beste Schwertritter von Solamnia zog seinen dunklen Mantel fester um sich und erbebte vor Freude. Umrahmt vom bedrohlichen, roten Mondlicht sah er von weitem aus wie ein riesiger Rabe oder ein unaussprechliches Wesen mit Fledermausflügeln, das hoch oben in dem mächtigen Baum kauerte. Der Frühlingswind legte sich, und in den oberen Zweigen herrschte wieder tiefster Winter. Es war totenstill, und die Atemwolken von Bonifaz stiegen gespenstisch in die mitternächtliche Luft.
Soll die alte Hexe den Jungen haben, dachte er. Wie eine Spinne glitt er den Baum hinunter.
Sollen sie ihn hängen oder kochen oder was auch immer sie in den Barbarendörfern von Lemisch machen. Egal was, es wäre völlig angemessen.
Und vielleicht würde es ja den Rat im fernen Turm, wo Eid und Maßstab im Schrank verstaubten, aus einem Tiefschlaf reißen. Der Tod seines Schützlings konnte Gunthar Uth Wistan vielleicht zu einem längst überfälligen Feldzug nach Süden verleiten. Dann würden die Menschen in Dun Ringberg, im Finsterwald, in ganz Lemisch und später in Trot und Neraka erfahren, was es hieß, Orden und Maßstab zu mißachten.
Aber selbst wenn Fürst Gunthar sich nicht aus dem Turm bewegte, wenn der Junge nicht gerächt und Lemisch verschont bliebe, wenn diese Nacht das Ende der Angelegenheit wäre, würde Bonifaz trotzdem zufrieden sein. Denn der jahrelange Krieg wäre endlich vorbei.
Fürst Bonifaz von Nebelhafen sprang in den Sattel seines schwarzen Hengstes. Mit der Geschmeidigkeit dessen, der vom Pferd aus auf engstem Raum gekämpft hat, wendete er schwungvoll sein Pferd und ritt in vollem Galopp zum Vingaard, während seine Gedanken bei seinem ältesten Schmerz weilten.
Sie waren zusammen aufgewachsen, Angriff und Bonifaz. Ob mit dem Schwert oder mit dem Buch, in der Reitkunst oder im Listenreichtum, sie standen einander in nichts nach, und auch von ihren ersten Feldzügen gegen die Oger von Blod bis hin zu den Grenzkriegen mit den Männern aus Neraka gab es kaum Unterschiede zwischen ihnen. Nur ihre Treue zu Eid und Maßstab war nicht dieselbe.
Bonifaz lebte für den Orden und brauchte dessen Regeln und Rituale wie die Luft zum Atmen. Buch um Buch des Maßstabs mit seinen ausführlichen Kapiteln, Listen, Besonderheiten und Ausnahmen hatte er ehrfürchtig auswendig gelernt, bis seine Kameraden ihn lächelnd »den nächsten Hofrichter« genannt hatten.
Sie hatten ihn belächelt, weil sie ihn bewunderten. Dessen war sich der junge Bonifaz sicher gewesen, und während seiner Knappenzeit und den ersten Rängen der Ritterschaft war seine Selbstsicherheit aus der Buchstabentreue erwachsen, aus den Gesetzen und Grenzen, die der Orden gepflegt hatte, seit der Zeit, als Vinas Solamnus zum ersten Mal die Feder in die Tinte getaucht hatte.
Er verstand nicht, wieso Kodex und Maßstab für seinen Freund Angriff mehr ein Spiel waren. Manchmal litt Bonifaz und fürchtete, er würde Angriff noch hinter sich lassen müssen, weil seine eigene Belesenheit und Ernsthaftigkeit in der Rose der wahren Ritterschaft erblühen würden und Angriff nur noch ein Hanswurst wäre, eine warnende Geschichte für zukünftige Ritter, daß Erbe, Aussehen und Großmut einen noch nicht zum Ritter machten. Er erwartete wirklich so etwas, doch auch Angriff wurde Knappe und dann Ritter der Krone, der im vierten Feldzug gegen Neraka ausgezeichnet diente.
Einen schwächeren Freund hätte es geärgert, mit ansehen zu müssen, wie dieses brillante Talent seine Zeit mit Spiel und Musik und Poesie vergeudete, mit allem anderen als Pflicht und Ehre. Einen schwächeren Freund hätte das geärgert, doch Bonifaz hielt zu Angriff, denn er hoffte entgegen allen Anzeichen, daß der Erbe der edlen Linie der Blitzklinges, Sohn von Emelin und Enkel von Bayard Blitzklinge sich der Disziplin zuwenden und dadurch glücklich werden würde, daß jede seiner Taten mit dem unbeugsamen Recht des Maßstabs im Einklang stand.
Bonifaz hoffte. Zumindest bis sein Freund aus dem Osten zurückkehrte.
Einen Monat war der frisch verheiratete Angriff in der Einöde von Estwilde vermißt gewesen, und alle bis auf seine junge Braut Ilys hatten ihn aufgegeben. Bonifaz hatte persönlich mit dem hübschen Mädchen auf dem Rittersporn gestanden, als ihre Augen nach einer durchweinten Woche rot und verschwollen waren, und sie ermahnt, die Tränen zurückzudrängen und den grünen Mantel der solamnischen Witwen anzulegen.
Natürlich hatte er sie nicht aus Haß bedrängt. Schließlich war es eine schwere Zeit für den Orden, in der der Gegner überall seine Kräfte sammelte. Er hatte nur die Chancen ausgerechnet, die gar nicht gut standen.
Sie hatte pflichtschuldig genickt und einen Mantel bei der Weberin bestellt. Es war bereits Frühling, als die Näherin die letzten Stickereien fertigstellte, das überlieferte Zeichen des Phönix. Zwei Tage bevor Ilys offiziell den Mantel anlegen sollte, um nach Kodex und Maßstab als Witwe zu gelten, kam Angriff Feuerklinge über die Solamnische Ebene und ritt langsam durch die Flügel des Habbakuk zu den Toren des Turms hoch. Er war so mit Schlamm verschmiert, daß Pferd und Reiter nicht mehr zu unterscheiden waren, und die ersten Posten hätten ihn fast mit dem Bogen angegriffen, weil sie ihn für einen Zentauren hielten.
Ilys verbarg den Mantel ganz unten in ihrer Mitgifttruhe aus Zedernholz, aus der sie ihn fünfzehn Jahre später wieder herausholen und anlegen würde, und rannte mit den anderen zu den Toren, um ihren Mann zu begrüßen. Auch Bonifaz war zutiefst erleichtert, hatte sich ehrlich und uneingeschränkt gefreut…
Bis er seinem erschöpften Freund die Zügel aus der Hand nahm und die Veränderung in seinen Augen sah.
Irgend etwas war in der Einöde von Estwilde geschehen. Angriff würde nie darüber reden, genausowenig wie über seine Heimreise, doch die respektlose Art, wie er Eid und Maßstab behandelte, entsetzte Bonifaz. Gesetz und Leben waren anscheinend Spielzeug für den lebenslustigen Angriff, der von jenem Tag an nur noch das absolute Mindestmaß an Ergebenheit zeigte. Er verweigerte den Gehorsam, wenn er die Kommandos seiner Vorgesetzten dumm oder gnadenlos fand, er vergab auch seinen Fußsoldaten leichtherzig ihren Ungehorsam, er sprach sich gegen Gottesurteile aus und mied alle zeremoniellen Anlässe, »weil sie ihn nicht mehr interessierten«.