Lemisch jedoch war unzivilisiert, und die Menschen schämten sich nicht im geringsten für einfache Unterkünfte. Die Häuser waren groß und rund, aus Balken und Weidengeflecht zusammengezimmert, die Dächer aus schwerem, nassem Stroh. Durch ein großes Loch in der Dachmitte zog der Rauch ab, so daß Sturm annahm, daß die Häuser von einem einfachen Feuer in der Mitte geheizt wurden.
Das war zu erwarten gewesen, dachte Sturm. Schließlich hatte er gehört, daß die Menschen aus Lemisch immer noch im Zeitalter der Finsternis lebten und die Häuser selbst ihrer mächtigsten Herrscher aus solamnischer Sicht kaum Schuppen zu nennen waren.
Was er jedoch nicht erwartet hatte, war der Versammlungsplatz – er blühte und grünte. Inmitten eines wenig einladenden, tristen Dorfes sprießte es direkt aus den Häusern am Platz, denn aus den Wänden wuchsen Blätter und Ranken, als würden die Balken noch leben und treiben.
Dort, inmitten eines von Menschenhand geschaffenen Waldes, erwarteten Sturm und Mara die Druidin Ragnell.
Sie trat unter einem Blätterbaldachin hervor, nachdem drei hübsche Mädchen ihr den Weg mit Lavendel und Fliederblüten bestreut hatten. Die alte Frau war völlig krumm, ihr Gesicht so runzlig und dunkel wie eine Walnußschale, ihr weißes Haar dünn und zerzaust. Sturm dachte an Meeresscheuchen, die spindelförmigen, lebensgroßen Puppen aus Holz und Schlamm, die die Küsten von Kothas und Mithas säumten, um von weitem den Eindruck zu erwecken, die Strände wären ständig bewacht.
Die alte Frau humpelte zu dem Weidenthron, wo sie sich, gestützt von den jungen Mädchen, mit langem, lauten Seufzen niederließ. So leise und rasch wie Vögel hasteten die Mädchen davon. Ihre olivbraune Haut verschwamm im Wald und im flackernden Fackelschein, so daß Sturm aus einiger Entfernung schließlich höchstens noch ihre weißen Kleider wie Geister durch den Wald huschen sah.
»Was bringst du mir, Hauptmann Duir?« fragte die Druidin, wodurch sie Sturms Aufmerksamkeit abrupt wieder auf den Platz, das Licht und die häßliche, alte Frau da drüben auf dem Weidenthron lenkte.
»Einen Solamnier, Lady Ragnell«, gab der Hauptmann bekannt. »Einen Solamnier und seine Gefährtin, eine Elfe.«
»Die Kagonesti sind bei uns willkommen«, entschied Ragnell. »Das Mädchen darf sich im Dorf frei bewegen.«
Wachmann Oron trat höflich, ja, scheu, von Mara weg. Das Elfenmädchen stand von bettelnden Kindern umringt zwischen den Soldaten und wußte nicht recht, was es jetzt tun sollte. Fragend blickte sie zu Sturm, der tonlos das Wort »Geh!« formte. Beinahe widerstrebend bahnte sie sich einen Weg durch die Menschen, bis sie am Rand des Feuerscheins und des Dorfplatzes einen Augenblick stehenblieb, um dann in die Schatten zurückzuweichen.
Nachdem Sturm nun allein der Druidin gegenüberstand, wandte er sich unsicher dem Weidenthron zu. Er wußte nicht, was mit ihm geschehen würde, und noch nebulöser wurde es durch die komischen Geschichten, die er über die Druiden in dieser Gegend gehört hatte. Sturm haßte Unsicherheit und rüstete sich für jede Überraschung, mit der die alte Frau vielleicht aufwarten würde.
Die meisten Ritter von Solamnia kannten Druiden nur vom Hörensagen. Da sie sich am Rande von anderen Religionen bewegten, schien es angebracht zu sein, gegen sie alle vorzugehen, denn vom solamnischen Klerus wurden sie als »Heiden« und »Häretiker« eingestuft. In manchen Teilen von Ansalon verehrten sie angeblich Bäume; andere praktizierten eine merkwürdige, veränderliche Magie, die mehr von den Jahreszeiten abhing als von den Monden der Zauberer. Es gab noch unheimlichere Dinge, die der Junge gehört hatte, aber als er jetzt am Dorffeuer stand, versuchte er, diese furchterregenden Geschichten aus seinen Gedanken zu verdrängen.
Nervös blinzelte er das häßliche, alte Weib an. Sie hatte eine Hakennase, und über ihre rechte Wange schlängelte sich eine weißliche Narbe. Nur die Götter wußten, wie sie dieses Ehrenmal erhalten hatte, und vielleicht kannten nicht einmal diese die Bräuche der Druiden von Lemisch.
Diese runzlige, vernarbte Lady Ragnell war offensichtlich eine Oberdruidin, was auch immer das bedeutete. Alle begegneten ihr mit ehrfürchtigem Respekt, so wie die Ritter eine Edelfrau behandeln würden, doch sie hörten auch auf ihre Ansichten und befolgten ihre Anordnungen. Jetzt blieb Sturm nichts anderes übrig, als zuzuhören. Die alte Frau beugte sich mit funkelnden, schwarzen Augen auf ihrem Thron vor.
»Solamnier sind hier unerwünscht, Bursche. Oder wußtest du das nicht?«
»Ich habe eine wichtige Mission, die mich in den Wald hinter Euch führt«, erklärte Sturm in bester Rittermanier. Er trat vor und straffte die Schultern, denn ihm wurde unvermittelt bewußt, daß noch der Dreck von dem Kampf am Fluß an ihm klebte. Er wünschte, er besäße die selbstsichere Autorität eines Fürsten Alfred oder Gunthar. Seine Stimme, der trotzige Verkündungen neu waren, wirkte in dieser bodenständigen Versammlung schwach und dünn.
Ragnell zuckte mit den Schultern und faltete die Hände fast zierlich im Schoß. Einen kurzen Augenblick konnte Sturm sich vorstellen, wie sie in ihrer Jugend ausgesehen hatte. Damals mußte sie wirklich schön, geradezu atemberaubend, gewesen sein. Aber jetzt waren hundert Jahre vergangen, und sie hatte sich langsam in den Wald um sich her zurückgezogen und war selbst knorrig wie die Bäume geworden.
»Du hast nirgends eine Mission, Junge«, erwiderte sie. Es lag nichts Unfreundliches in ihrer Stimme, keine Drohung. »Du hast überhaupt kein Ziel außer diesem Ort, bis wir das… Rätsel um dich gelöst haben. Bis dahin ist dein Platz im Rundhaus, in dem Raum, den wir für dich vorbereitet haben.«
»Vielleicht«, schlug Sturm vor, »bin ich im Haus von Jack Derry mehr willkommen.«
Die Druidin schloß kurz die Augen. »Als Jack Derry ging«, antwortete sie, »haben Blätter und Schnee den Weg hinter ihm verdeckt. Kein Jäger in Lemisch könnte ihn finden, und keiner von meinen Leuten würde es versuchen wollen.«
Sturm schluckte beklommen und wandte den Blick von dem kantigen Gesicht der Druidin ab.
»Es sind Jahre vergangen«, stellte sie fest. »Ich kenne keinen Jack Derry mehr.«
Verräter, dachte Sturm wütend und merkte, wie sein Gesicht heiß wurde. Er machte den Mund auf, brachte jedoch kein Wort heraus.
»Aber ich kenne deinen Orden«, fuhr Ragnell fort, »und ich kenne die Geschichte. Und beides ist keine Empfehlung für dich. Unser Land ist immer noch kein Freund von deinem, unser Volk kein Freund des Ordens.«
»Was nicht bedeutet, daß ich Euch schaden will«, erwiderte Sturm.
»Aber es ist wahrscheinlicher, daß du uns schaden wirst, als daß du uns Gutes tust«, antwortete die Druidin, die sich zurücklehnte und ins Feuer blickte, als würde sie in die Zukunft oder in die Vergangenheit sehen.
»So war es immer«, fuhr sie leise fort. »Ihr Ritter seid wie ein Wirbelsturm über dieses Land geritten, habt Dörfer und Hoffnungen zerschlagen bei eurer unablässigen Jagd nach etwas, das ihr gut und rechtschaffen nennt. Aber es gab eine Zeit, erst vor wenigen Jahren, wo eure bedrohliche Rechtschaffenheit zurückgedrängt, fast weggefegt wurde.«
»Die Rebellion?« fragte Sturm, der sich an seine Flucht über den verschneiten Bergpaß in der Obhut von Soren Vardis erinnerte.
»Den Aufschrei, wie wir es nennen«, antwortete Ragnell gemessen. »Als sich das Volk von Lemisch und Südlund und Solamnia gegen den harten, selbstgerechten Orden erhob.«
Sie machte eine Pause, lächelte schief und zeigte dabei eine Zahnlücke.
»Wir waren nahe daran, eure Kavallerie zu zerschlagen«, verkündete sie. »Ich bin Ragnell, die Belagerin, weiß du.«
»Ich… ich fürchte, dieser Name wird… in unserer Geschichte nicht erwähnt«, erwiderte Sturm mit taktvoller Zurückhaltung. Die alte Hexe winkte lachend mit ihrer knotigen Hand durch die verrauchte Luft, als würde sie sowohl die Geschichte als auch seine Worte wegwischen.