Die Druidin lächelte. Mit knackenden Gelenken setzte sie sich vor ihn. Aus den Falten ihrer Robe zog sie einen Zweig – Weide vielleicht, doch mit Pflanzen kannte Sturm sich kaum aus, so daß er es nicht genau feststellen konnte. Mit sicherer, gekonnter Geste malte sie einen Kreis auf den Erdboden.
»Dein Vergehen ist schwer, Kleiner«, stellte sie fest. »Schwer und teuer.«
»Vergehen? Daß ich von bewaffneten Wachen vor Euch geschleppt wurde?«
Die Druidin ignorierte ihn, denn ihre Augen lagen auf dem Staubhäufchen in dem frisch gezogenen Kreis. Bald merkte Sturm, wie seine Augen unwillkürlich den raschen, kreisenden Bewegungen ihres Stocks folgten.
»Es ist ein Vergehen«, erklärte sie, »denn die Menschen in Lemisch fürchten die Legionen der Solamnier, ihre hellen Schwerter, ihre Pferde und die Rechtschaffenheit in ihren Augen.«
»Vielleicht ist ihre Furcht selbstverschuldet, Lady Ragnell!« gab Sturm zurück. »Vielleicht schreit noch ein Verbrechen in Lemisch nach Gerechtigkeit! Vielleicht stehen verlassene Schlösser im Norden, die davon zeugen – «
»Wovon zeugen?« unterbrach die Druidin mit ruhiger, ungerührter Stimme. Tief in ihren Augen sah Sturm ein Flackern. Zorn? Belustigung? Er wußte es nicht.
»Vielleicht gibt es einen Grund, Sturm Feuerklinge«, besänftigte ihn Lady Ragnell. »Die jungen Leute glauben das, und deshalb bitten wir sie, das Schwert zu ergreifen.«
Sturm hörte ihr kaum zu, denn sein Blick hing schon wieder an dem Staubkreis fest, der jetzt weiter wurde – wie Ringe auf der Oberfläche eines ruhigen Teichs, wenn etwas ins Wasser geworfen wird.
»Aber ich wollte nicht über Politik streiten, junger Mann«, sagte Ragnell. Jetzt begann sie zu singen, wobei sich der Staub um sie erhob. »Oder über Förmlichkeiten auf dem Land und bei Hof, ich wollte nicht loben oder strafen, sondern nur zeigen…«
Ihre Stimme hob sich zum Gesang. Sturm hörte eine der alten Weisen und bemühte sich, sie einzuordnen. Dann glaubte er, tief in den Atempausen zwischen den Noten, tief im Raum zwischen den Worten, eine zweite Melodie zu vernehmen, ein Lied unterhalb der Worte und Gedanken.
»Ich zeige dir eine Handvoll Staub«, rezitierte Ragnell, deren Stab sich schneller und schneller bewegte. »Eine Handvoll Staub zeige ich dir…«Ein verschneites Land erstreckte sich glatt und baumlos vor ihm, so echt, daß er zitterte, wenn er es ansah.
Trot. Etwas verriet ihm, daß die Steppen von Trot vor ihm lagen. Er sah zurück in den Winter, Monate zurück, auf dickes Eis und den Jahreswechsel.
Es war einmal, begann eine ironische Stimme, deren Worte durch den kalten Wind tönten, den er hören und fühlen konnte. Überrascht schüttelte Sturm den Kopf. Er konnte nicht ausmachen, ob diese Stimme von Mara stammte oder aus dem Singsang der Druidin.
Zur Julzeit im Goblinland, fuhr die Stimme fort. Jetzt war ein Dorf zu sehen, ein Dutzend einfacher Hütten, die halb im Schnee versunken waren. Rauch stieg von einem großen Feuer in der Mitte auf, und kleine, kräftige Gestalten in Pelzen liefen gebückt zwischen den Schatten herum.
Ein verwahrloster, einsamer Ort in der winterlichen Einöde von Trot. Schon bei dem Anblick sträubten sich Sturm die Haare, denn das erinnerte ihn an Geschichten von Goblinüberfällen, von Horden, die so schnell und gnadenlos nahten wie Wölfe.
Als der Trupp Solamnier schnell wie ein Sturm über der Winterwüste aus dem Schnee brach, war Sturm hingerissen. Er hielt den Atem an. Zwanzig, vielleicht fünfundzwanzig Ritter in Mantel und Rüstung mit gezückten Schwertern und dicken, schwarzen Häuten über ihren Schilden.
Das war das Zeichen für Gnadenlosigkeit, die dunklen Schilde – wenn das Böse zu stark, zu halsstarrig war.
»Warum zeigt Ihr mir das, Ragnell?« fragte er. »Werden meine Leute den Kampf verlieren?«
Warte, sagte der Wind ihm ins Ohr. Wart ab und sei Zeuge.
An der Spitze des Zuges hob ein großer Reiter die Hand. Hinter ihm spornten die Reiter ihre Pferde im Galopp und schrien einstimmig ihren Schlachtruf:
»Est Mithas oth Sularis!«
Wie ein wildes Buschfeuer rasten sie durch das Goblinlager. Der große Anführer ließ sein Schwert auf die vorderste Jurte krachen, und das Krachen des Holzes, das Zerreißen der Häute und das Kreischen der überraschten Bewohner erfüllten die Luft.
Im Nu lag das Lager in Trümmern. Die Klingen blitzten wie die Flügel eines Bienenschwarms, und man hörte das laute Klirren von Metall auf Metall, Metall auf Stein, Metall auf Knochen. Die Goblinspeere prallten harmlos von den Schilden der Ritter ab, deren Schwerter mit wilder Präzision zuschlugen. Pferde bäumten sich auf und traten zu, und die Goblins fielen scharenweise.
Sturm schüttelte den Kopf. Seine Hände ballten sich schweißnaß zusammen. Auf allen vieren kniete er über dem wirbelnden Staub der Vision. Ihm verschlug es den Atem, und seine langen Haare klebten verschwitzt am Kopf. Einen Augenblick sah er nur Schutt und Holz. Er hörte nur den Singsang von Ragnell, dort im tiefen Schweigen des Rundhauses von Dun Ringberg.
Dann kehrte die Szene mit aller brutalen Schärfe zurück. Ein großer, vierschrötiger Mann – Sturm erkannte ihn: es war Fürst Joseph Uth Matar, das Oberhaupt einer aussterbenden Familie – trat aus einer Jurte und zerrte zwei junge Goblins hinter sich her. Es waren dreckige, kleine Biester, die bissen und kratzten und sich vor Wut und Angst besudelten.
Wortlos zwang Fürst Joseph die jämmerlichen, kleinen Geschöpfe auf die Knie. Er sprach kurz und leise zu ihnen, wobei er über ihre drohenden Flüche lachte. Als das Verhör vorbei war, rang ein junger Ritter – Sturm hielt ihn für einen der zahlreichen Jeoffreys – die quietschenden, fauchenden, kleinen Monster mannhaft nieder. Obwohl sein Gesicht nach dem Kampf von ihren scharfen Nägeln etwas verunstaltet war, gelang es ihm, ein Seil um ihre Handgelenke zu schlingen.
Die Hütten brannten wie Zunder, wie trockenes Gras. Bald stand alles in Flammen, und der schwarze Rauch zog durch den schmelzenden Schnee. Fürst Joseph stand bei den jungen Goblins, während seine Offiziere das Wenige retteten, was es hier zu retten gab, bevor sie die Fackel an die Jurten hielten.
Inmitten dieser lodernden Flammen standen drei Ritter über den kreischenden kleinen Monstern. Fürst Joseph blinzelte, als würde er versuchen, durch den zunehmenden Rauch zu sehen. Er drehte sich rundherum und beschirmte jetzt seine Augen, als würde er nach etwas Fernem oder unwiederbringlich Verlorenem Ausschau halten.
Er nickte zufrieden. Rasch stieg er auf und sagte etwas zu den beiden jungen Rittern, um dann an der Spitze des Zuges davonzupreschen. Die beiden warteten, bis die Hufschläge von Schnee und Entfernung gedämpft wurden, bis man nur noch das Knistern der Flammen und das Kreischen und Fluchen der jungen Goblins hörte.
Dann zogen sie ihre Schwerter, und mit der Eleganz aus jahrelangen Schaukämpfen, aus Fechtunterricht, Turnier und sorgfältiger, aufwendiger Unterweisung in den Lehren des Maßstabs, erhoben sie die Klingen und ließen sie in einem geschmeidigen, fast schönen Bogen auf die kleinen Goblins heruntersausen.
Sturm hob den Blick, weil ihn schon die Vorstellung ihrer Schreie entsetzte. Ragnell starrte ihn ausdruckslos an.
»Also schön«, sagte sie. »Für heute habe ich dir genug… gezeigt, Sturm Feuerklinge.«
Sie stand auf, und der Staub legte sich langsam. Mit schwerem Schritt, als hätte der Morgen sie ermüdet, schlurfte sie zur Tür und pochte. Oron hob den Riegel an und trat beiseite, als die Druidin vorbeiging, ohne noch einmal zu Sturm zurückzusehen.
Der junge Ritter saß gedankenverloren auf der Matratze, aufgewühlt von allem, was er gerade gesehen hatte. Irgendwo in der Nähe begann Mara mit klarer, tröstender Stimme zu singen. Aber Sturms Gedanken schweiften gleich wieder von ihrem Gesang ab, denn er dachte nur an den Eid und den Maßstab und das, was er gerade gesehen hatte.
Wieland, der Schmied, schlief in dem Zimmer neben der Esse, nachdem er das Feuer sicher abgedeckt hatte. Um diese Jahreszeit war er dankbar für die Wärme, denn die kalten Nächte zu Frühlingsanfang waren für die meisten im Dorf unangenehm.