Gegen Morgen wurde sein Schlaf unruhig. Er stand gewöhnlich bei Sonnenaufgang auf, und mit den Jahren hatte sich sein Körper auf diese Zeit eingestellt, und Wieland dämmerte während der letzten Stunden der Nacht halbwach vor sich hin.
Er meinte, an der Esse hätte sich etwas geregt – ein leises, raschelndes Geräusch, als wenn etwas im Schmelzofen zusammengerutscht wäre. Er schlug die Augen nicht auf. Nichts Ungewöhnliches, so ein Geräusch, besonders wenn ein starker Wind durch seinen Schornstein fegte und den Torf aufwirbelte, mit dem das Feuer abgedeckt war. Da gibt es sowieso nichts zu stehlen, dachte er und sank wieder in Schlaf, ohne in seiner Schläfrigkeit an das solamnische Schwert zu denken, das er vor zwei Tagen neu geschmiedet hatte.
Das Schwert hing an der Wand. Der Schmied hatte nahezu perfekte Arbeit geleistet. Es war eine scharfe, starke, elastische Klinge, »bereit für hundert Schlachten«, wie Wieland stolz gesagt hatte, als er die Klinge in die Nachmittagssonne gehalten hatte. Und doch würden es von jetzt an zwei Schwerter sein: das Erbstück von fünfzig Generationen Blitzklinges bis zurück zu Bedal Blitzklinge im düsteren Zeitalter der Macht und ein neues Schwert, eins, dem seine Herkunft gleichgültig war, frisch und neu geboren.
Diese Nacht brachte das erste Abenteuer für das neue Schwert. Während Wieland schlief, griff ein kleines, haariges Bein nach dem Heft. Dann noch eins und noch eins.
Cyren war kaum stark genug, die Waffe zu tragen. Er drehte sich um und wankte mit dem Schwert auf dem Rücken rückwärts über den Boden der Schmiede. Zwischen Hunger und Angst hin- und hergerissen, hielt die Spinne das schwere Schwert umklammert, obwohl sie unter dem Gewicht taumelte, und krabbelte durch die Tür nach draußen.
Leider rannte sie in der Dunkelheit vor lauter Angst und Umdrehen statt dessen durch die Schlafzimmertür. Das Schwert schlug gegen den Türrahmen, und von dem Geräusch erwachte Wieland und saß mit blinzelnden Augen senkrecht im Bett.
Das größte achtbeinige Ungeziefer, das er je gesehen hatte, starrte ihn mit großen Augen von der Tür her an.
Es war schwer zu sagen, wer mehr Angst hatte. Schmied und Spinne schrien durcheinander; Wieland sprang aus dem offenen Fenster, und Cyren rannte herum, knallte mit dem Schwert noch einmal an den Türrahmen und sprang dann über die Esse und in die Nacht hinaus. Als er um die Ecke bog, stieß die Spinne mit dem entgeisterten Schmied zusammen, und die beiden schrien noch lauter, stießen einander zur Seite und flohen in die Nacht.
In dem Haus in der Mitte des Dorfs erwachte Sturm von dem Geschrei und Gekreische. Die Wachen vor seiner Tür wurden unruhig, und irgendwo am Feuer in der Mitte rief einer: »Was iss’n los?« Eine bierselige, tiefe Stimme grollte »Pst!«, und das Haus fiel plötzlich wieder in Schweigen.
Sturm legte sich wieder hin und blickte durch die Öffnung im Dach des Rundhauses. Der Himmel war hell, die Wolken waren rot umrandet, als wenn Lunitari seine volle Größe erreicht hätte.
Er hatte von Rittern und Schwertern und Goblins in einer finsteren Schlacht geträumt, von einer kriegerischen Musik in der Ferne – keiner Flöte diesmal, auch keiner Stimme, sondern einer Trompete.
Auf der anderen Seite der Wand hörte er Mara murmeln. Sturm lächelte matt.
»Selbst im Schlaf redet sie noch«, flüsterte er.
Die Szene, die die Druidin ihm gezeigt hatte, verwirrte und beunruhigte Sturm. Die brennenden Häuser, die jungen Goblins, die Jagd im wirbelnden Schnee…
Er schlug die Augen gerade rechtzeitig auf, um zu sehen, wie ein langer, weißer Faden durch die Öffnung herunterfiel, und darüber sah Sturm ein schreckliches Gesicht mit zehn riesigen Augen.
16
In den Finsterwald
Cyren war zuerst zu Mara gekommen. Es hatte ihn jeden Funken Tapferkeit gekostet, auf das Dach zu klettern und über einem großen Feuer zu stehen und dann auch noch einen Faden mitten über den Soldaten herunterzulassen. Sein groteskes Gesicht wurde von Mondlicht und Sternen eingerahmt, als er wild winkte und zirpte.
Mara kletterte wie eine zweite Spinne an dem dicken Faden hoch. Zweimal stemmte sie die Füße gegen die gewölbte Decke und stieß sich so gekonnt ab, daß sie wie eine Akrobatin unter dem Dach pendelte. Schließlich verschwand sie strampelnd durch das Loch in der Decke. Dann blickte sie zurück und warf das Seil auf der anderen Seite der Wand zu Sturm hinunter.
Sturm hockte sich hin und holte tief Luft. Der Fluchtweg erschien ihm aberwitzig, fast verrückt, aber immerhin führte er ins Freie.
Mühsam zog Sturm sich Hand um Hand an dem Strang hoch und versuchte, seine Schulter nicht zu sehr zu belasten, da sie ihm wieder Probleme machte. Schließlich balancierten seine Füße wackelig oben auf der Vorderwand seiner Zelle. Unter ihm lagen die schlafenden Wachen mit dem Rücken an der Wand. Ein halbes Dutzend anderer schnarchte am heruntergebrannten Feuer, und hinten am Eingang schliefen zwei, über ihre Speere gebeugt, im Stehen.
Sturm lächelte etwas zuversichtlicher und band sich den Strang um den Bauch. Von hier aus war es nur ein kurzer Sprung zu der Öffnung im Dach und in die Freiheit. Er stieß sich von der Wand ab, sprang los, streckte die Arme aus…
… und kam gute drei Fuß zu kurz an.
Er drehte sich in der Luft, versuchte noch einmal verzweifelt zuzugreifen und verlor dadurch das letzte bißchen Gleichgewicht. Seine Füße blieben über ihm in dem Webstück hängen. Sturm unterdrückte einen Entsetzensschrei, als er mit dem Kopf voran halsbrecherisch auf die glühende, torfbedeckte Mitte des Feuers zuraste. Der Webstrang bewahrte ihn wenige Fuß darüber vor dem Schicksal, geröstet zu werden. Lautlos baumelte er über den schlafenden Wachen.
Der Fall hatte ihm den Atem genommen. Keuchend griff er nach seinen Knöcheln, die er jedoch erst beim dritten Mal erwischte. Nachdem er sich in eine bessere Position gezogen hatte, griff er wieder nach dem Seil und kletterte direkt durch die Öffnung, wo Mara ihm half, aufs Dach zu steigen.
Es war ihm wie eine Ewigkeit vorgekommen, und es schien eine weitere Ewigkeit zu dauern, bis er von dem Faden befreit war. Als Sturm aufsah, beugte sich Mara über ihn, während Cyren wie ein von einem perversen Zauberer verwandelter Baldachin über ihr thronte.
»Hier«, flüsterte die Elfe und reichte Sturm sein Schwert. »Hat genau der Schmied neu geschmiedet, von dem Jack Derry gesprochen hat, also dürfte es gute Arbeit sein.«
»Der Schmied!« zischte Sturm. »Also hast du ihn gefunden?« Nachdem er den letzten Spinnenstrang vom Knöchel abgeschüttelt hatte, kroch er zum Rand des Dachs.
»Die Schmiede ist ganz hinten beim Stall. Aber eine Wache könnte uns unterwegs entdecken! Oder auch nur ein kläffender Hund…«
»Zeig mir den Weg«, verlangte Sturm. »Ich muß unbedingt in die Schmiede.«
Er drehte sich zu Mara um und ergriff drängend ihre Hand. »Jack Derry schuldet mir eine Erklärung.«
Sturm steckte das neugeschmiedete Schwert in seinen Gürtel und rutschte das Dach des Rundhauses hinunter. Am Rand hielt er sich fest, denn dort bildete frischer Efeu ein grünes Spalier bis zum Dorfplatz hinunter. Mara folgte ihm seufzend, und die Spinne blieb ihr mit nervösem Zirpen auf den Fersen. Als beide festen Boden erreicht hatten, zeigte das Elfenmädchen zum Stall und auf die Schmiede dahinter, und sie schlichen sich durch die düsteren Gassen von Dun Ringberg und mieden das verräterische Mondlicht, bis sie am Rand des Dorfes angekommen waren – wo in Wielands Fenster ein einsames Licht flackerte.
Sturm hörte die ferne, einschmeichelnde Musik, als die Schmiede in Sicht kam. Sie erinnerte den jungen Ritter an Vertumnus und an die Prüfung, die ihm bevorstand. Er schlug seinen Mantel gegen den Regen hoch und bedeutete Mara, im Schutz der Dunkelheit zu warten. Tief gebückt überquerte er das letzte offene Stück zur Schmiede. Leise schlich er ans Fenster und stellte sich auf die Zehenspitzen, um hineinzuspähen.