Während er so vor Vertumnus kniete, bezwang Sturm seine Todesangst. Er murmelte eine solamnische Totenklage, um auf das heruntersausende Schwert vorbereitet zu sein…
Das seine linke Schulter berührte, dann die rechte, und das mit einem leichten, freundlichen, spielerischen Schlag.
»Erhebt Euch, Sir Sturm Feuerklinge, Ritter des Waldes«, lachte der Herr der Wildnis.
Mit befremdetem Ärger sah Sturm zu seinem Gegner hoch…
Der ihn verspottet hatte, seine Ehre besudelt, seine Waffe gestohlen…
Der den Maßstab selbst um den ritterlichen Tod betrogen hatte…
»Das Leben, das du mir schuldest, Junge«, sagte Vertumnus, »ist das, das du mit Schaukämpfen und Rache vertändeln würdest.«
Sturm starrte ihn fragend an. Er war wie vom Donner gerührt.
»Mein Sohn hat dir von… Fürst Bonifaz Kronenhüter erzählt?« fing der Herr der Wildnis an. »Und du hast seine Machenschaften auf dem Weg in den Finsterwald selbst erlebt?«
»Ich – ich könnte nicht behaupten, daß es ein einfacher Weg war, Fürst Vertumnus«, erwiderte Sturm stockend. »Aber ich kann nicht glauben, daß das Fürst Bonifaz’ Werk war.«
»Denk nach!« drängte Vertumnus aufgebracht. »Räuber und Assassinen mit solamnischem Geld von hier bis zum Turm des Oberklerikers, unzählige Mißgeschicke und Zufälle, das einzige Geschenk, das du von Bonifaz erhalten hast, absichtlich verdorben… Wenn du nur eins und eins zusammenzählst, und wenn Eid und Maßstab dich nicht für die Wahrheit blind machten, kämst du leicht auf die Antwort!«
»Aber warum?« fragte Sturm. »Wenn Fürst Bonifaz Kronenhüter zu solchem Verrat fähig ist, warum gegen mich?«
»Warum?« fragte Vertumnus, und plötzlich erfüllte Musik den von Abfall übersäten Hof, als wäre ein Wind über die Flöte an seinem Gürtel gestrichen und hätte ihr ein Lied entlockt. »Hör zu und sieh in die neue Klinge deines Schwerts…«
Er mußte einfach hineinsehen, und im Herzen der Klinge sah Sturm ein verschneites Land, während sich das Metall von Silber zu Weiß verfärbte. Sturm blinzelte und sah genauer hin…
Böse, schattenhafte Gestalten, die sich mit Mantel und Kapuze vor dem Schneetreiben schützten, versammelten sich an einem fernen Paß. Ihr Anführer war ein Mann zu Pferd, dessen Kapuze trotz des Wetters zurückgeschlagen war. Mit seinem Bart und seinen Narben sah er aus, als wäre er aus Geröll und trockenen Zweigen geschnitzt.
Der Mann war in ein Gespräch mit einem anderen vertieft, der die elegante, solamnische Rüstung trug. Der Ritter war anscheinend von nur einem anderen Ritter und drei Fußsoldaten begleitet. Von seiner Rüstung perlte geschmolzener Schnee, als der wortführende Ritter dem zerlumpten Kerl eine Schriftrolle in seine knorrige Hand legte und durch die eisige Luft zu einem dunklen Durchgang durch die Felsen zeigte.
»Durch diesen Paß werden sie kommen«, sagte er.
Sturm kannte die Stimme. Er wollte etwas rufen, aber die Musik umgab ihn und brachte ihn zum Schweigen.
»Es wird die Standarte von Agion Pfadwächter sein«, sagte der Mann. »Roter Zentaur vor schwarzem Berg.«
Der rauhe Mann zog den Mantel enger um sich. »Und dafür eine so großzügige Bezahlung, Fürst…«
»Tückjäger«, entgegnete der Mann. »Du kennst mich nur als Fürst Tückjäger.«
»Ein Trugbild!« rief Sturm, der seine Augen von der Vision losriß. Vertumnus, der auf dem Amboß saß, betrachtete ihn neugierig und etwas traurig. »Das… das muß ein Trugbild sein! Es muß…«
»Aber wenn nicht…«
»Ich werde mich so blutig rächen, daß…«, fing Sturm an.
»Nein.« Mit zwei langen Schritten war Vertumnus neben Sturm und faßte ihn fest an die Schulter.
Sturm keuchte. Der Schmerz war vorbei… die Wunde…
»Nein«, wiederholte Vertumnus. »Es ist kein Trugbild. Denn ich war der andere Ritter, Sturm Feuerklinge. Ich bin durch den Schnee zu jenem entfernten Paß geritten, wo den Banditen Schriftrolle und Lohn ausgehändigt wurden. Zusammen mit den Fußsoldaten, die uns begleiteten. Und als Agion fiel und das Schloß verloren war, war ich es, den Bonifaz beschuldigte.«
Erschüttert ließ Sturm sein Schwert fallen. Blind vor Tränen und Wut tastete er auf dem Boden nach der Klinge, während der Herr der Wildnis ungerührt fortfuhr.
»Ich bin ihm in die Berge und das Schneetreiben gefolgt, weil mich meine Liebe zum Maßstab dazu trieb und weil ich entzückt war über die Ehre, Fürst Bonifaz auf seinen eigenen Wunsch begleiten zu dürfen. Liebe und Entzücken verwandelten sich in Haß und Wut, als ich seine Verschwörung und seinen Verrat sah.
Aber was konnte ich sagen? Ich bin nach Schloß Feuerklinge zurückgekehrt, wo Bonifaz, der wie ein alter Fuchs im Schnee in unseren Spuren zurückritt, Kodex und Maßstab und die ganze verdammte solamnische Maschinerie benutzte, um mir seinen Verrat anzulasten. Als ich die Ritter verließ und in den tiefen Schnee hinauslief, wußte ich nichts von Hollis und der Veränderung, die mich erwartete. Ich dachte, ich würde in den Tod ziehen und langsam in Eis und Schlaf versinken, doch einen solchen Tod zog ich dem des Ordens vor – daß mein Blut und meine Freude von den Händen dieser blutarmen, freudlosen Gefährten vergossen würde.
Aber ich habe dich nicht den ganzen Weg hierhergeholt, damit du weiteres Blut vergießt. Solamnische Rache ist etwas scheußlich Verzwicktes, heiß und giftig wie die Paarung von Spinnen. Und ich sage auch nein zum Eid und zum Maßstab und zu dem Stolz, den dein Orden aus ihnen zieht. Denn der Maßstab übt vielleicht geregelt Rache, aber dennoch ist es Rache, dennoch ist sie verzwickt und böse.«
»Aber… was dann?« Sturm schrie beinahe.
Vertumnus hockte sich neben den Jungen.
»Bleib im Finsterwald«, sagte er. »Vergib Bonifaz… dem Orden… deinem Vater… ihnen allen. Vergib ihnen und laß sie hinter dir zurück. Vergib ihnen.«
»Aber der Eid und der Maßstab!« beharrte Sturm. »Tausend Jahre Gesetz – «
»Haben nichts Gutes gebracht!« unterbrach ihn Vertumnus heftig. »Aus den Kronenhütern und den Jeoffreys haben sie Unmenschen gemacht, sie haben Tausende von Namenlosen abgeschlachtet, haben dich den Vater gekostet und dich hoffnungslos zu Tode verwundet, wenn nicht…«
Voller Angst und Zorn kroch der Junge von dem Mann vor ihm davon, wobei er mit der Schulter gegen die Brunnensteine stieß. Schließlich erhob er sich auf die Beine. Seine Augen waren vor trostlosem, wütendem Schmerz zusammengekniffen, und die Knöchel seiner Finger waren weiß, so fest umklammerte die Hand den Schwertgriff.
Blasphemie. Das dulde ich nicht. Bei Huma und Vinas Solamnus und Paladin persönlich, das dulde ich nicht!
»Mein Vater ist jetzt der Orden!« rief Sturm mit dünner, bedrängter Stimme im stillen Hof aus. »Meine Familie ist der Orden! Geht zurück in Euren Wald und laßt mich allein!«
Als er erwachte, lag er mit der Schwertscheide in den Händen auf dem Amboß. Die Schmiede und mit ihr der Stall waren verschwunden. Luin graste einsam und friedlich in einem überwucherten Ziergarten, und von Fürst Vertumnus war keine Spur zu sehen.
Die Musik hatte aufgehört. Sturm lief erst nach rechts, dann nach links, dann um den Amboß herum und blickte in jede Richtung, weil er hoffte, das Lied würde wieder einsetzen und ihn zu Vertumnus führen. Doch das ganze Dorf schwieg.
Luin hob den Kopf und wieherte, doch Sturm hörte nichts.
Er blickte nach oben, wo der Wind leise durch die Bäume strich. Die Blätter raschelten unhörbar, und über seinem Kopf zog eine Schar Gänse rasch auf ihrer Wanderung in kühlere Regionen nach Süden, doch ihre Flügelschläge und Schreie waren nicht zu vernehmen.
»Was?« fragte Sturm laut, weil er sich nach einem Geräusch sehnte, und wenn es nur seine eigene Stimme war. Er rief noch einmal und dann ein drittes Mal.
Es war das einzige, was zu hören war, und auch das verlor sich in der tiefen, ablehnenden Stille um ihn her. Dann kam aus der Stille der dumpfe regelmäßige Schlag einer fernen Trommel. Sturm gab sich Mühe, hinzuhorchen und dem Geräusch nachzugehen, aber wohin er sich auch wandte, es war immer gleich schwach, ob bei Luin, am Amboß oder drüben in der Mitte des Dorfs, es klang immer gleich gedämpft.