Er schüttelte den Kopf, um den Schmerz zu vertreiben. Der Hügel war immer schlechter zu erkennen, als der Schnee dichter fiel, und zweimal hatte er zu seinem Entsetzen kurz gar nichts mehr gesehen. Da hatte er überlegt, ob er einfach handeln und den Damm öffnen sollte, damit das Wasser losrauschte, aus der verzweifelten Hoffnung heraus, daß er Tivoks Signal auf dem Hügel übersehen haben könnte.
Das war dumm, er wußte es. Also hatte er es nicht getan. Schlecht gelaunt blieb er sitzen, bis sich aus dem blendenden Weiß wieder die Umrisse des Hügels herausschälten und seine Panik einer nagenden Unruhe wich.
Wenn das der solamnische Frühling war, überlegte Hawod mit trägen, schwerfälligen Gedanken, dann würde er nur höchst ungern…
Der Gedanke blieb unvollendet in der eisigen Luft hängen. Der Drakonier döste ein, und mit dem Schnee wurde auch sein Schlaf tiefer, als er seinen drei Gefährten in den traumlosen Winterschlaf der Reptilien folgte.
Tivok schäumte, als der Reiter das andere Ufer erreichte.
Zischend stürmte er den Hügel hinunter, rutschte auf knöcheltiefem, frischem Schnee hinab, bis sich sein Umhang aufblähte wie das Segel eines mürben Eisbrechers.
Sie hatten alle versagt – Nashif mit seinem Hinterhalt, Hawod und die anderen flußaufwärts am Damm. Er hatte so etwas befürchtet, aber noch mehr befürchtete er den Verlust des solamnischen Golds.
Er rutschte aus, fiel hin und stand leise fluchend wieder auf. Das Schwert glitt ihm aus der Hand und rutschte durch den weißen Schnee, wobei es eine dicke grüne Spur hinter sich zog. Am Fuß des Hügels blieb es stecken. Die Klinge mit den Sägezähnen glitzerte, nachdem der schmelzende Schnee sie reingewaschen hatte.
Überhaupt, dachte Tivok, als er die Waffe aufhob, hatte er eigene Pläne auf dieser Seite des Flusses. In Gedanken bei dem bevorstehenden Kampf, steckte er die Klinge geistesabwesend weg und sprang ans Westufer der Furt.
Luin erschauerte, als der Wind ihre nassen Flanken traf. Sturm stieg schnell ab und zog eine Decke vom Sattel, um die Stute so gut wie möglich abzutrocknen.
Die Überquerung der Furt war beinahe verdächtig einfach gewesen. Mitten im Fluß hatte die Musik nachgelassen, doch sein Pferd war gemächlich und stetig von Osten nach Westen gezogen. Obwohl der Wetterumschwung einen unangenehmen Ritt versprach, hatte Sturm den längsten Teil der Reise jetzt hinter sich, und ihn erwarteten keine Gefahren mehr außer der letzten und tödlichsten – der Begegnung mit Bonifaz im Turm.
Wieder dachte der Junge über die letzten vierzehn Tage nach, trennte Beweis von Gerücht und Tatsache von Hörensagen. Er wäre ein leichtes Ziel gewesen, als er gedankenverloren und beschäftigt neben seinem Pferd kniete, wenn Tivok nicht aus dem Wasser gekommen wäre. Seine Schritte brachen laut durch eine dicke Eisscholle.
Sturm sprang sofort auf. Er zog seine Waffe und fuhr herum, um sich dem großen Drakonier zu stellen. Mit drohendem Zischen zog Tivok sein Schwert und ließ es hinuntersausen. Sturm erhob seine Waffe, um den Schlag abzufangen, und bekam den Aufprall bis hinauf in Arme und Schultern zu spüren.
Der Drakonier war stärker als er. Schlag um Schlag war er ihm nicht gewachsen.
Sturm wich eilig vor Tivok zurück, indem er vor einem wirbelnden Schlag der Klinge mit den Sägezähnen zur Seite sprang. Mit überraschtem Schnauben trottete Luin zum Fluß hinunter und überließ die zwei Kämpfenden sich selbst. Während er sein Schwert gerade ausgestreckt vor sich hielt, umkreiste Sturm den Drakonier geduckt und sprungbereit.
Tivok jedoch war weder ein ungeschulter noch ein unerfahrener Kämpfer. Er wartete ab, folgte unablässig dem kreisenden Jungen, und als es soweit war, kam sein Angriff plötzlich, gezielt und fast tödlich. Sturm stolperte vor dem unerwartet schnellen Vorstürmen und dem Stoß zur Seite, fing einen Schlag ab, lenkte einen zweiten ab und schlidderte über den vereisten Boden, bis er außer Reichweite des Schwerts war. Nur die Schnelligkeit seiner Jugend und die winterliche Trägheit seines Gegners retteten ihn vor dem Tod durch die Sägezähne.
Trotz allem aber hatte der Drakonier ihn verwundet.
Sturm stand unsicher auf und hielt sich das Bein.
Tivok trat zurück. Verächtlich lehnte er sich auf sein Schwert.
»Das sollte reichen, Solamnier«, meinte er.
Sturm sagte nichts, sondern rüstete sich für einen zweiten Angriff.
»Die Klinge war nämlich vergiftet, wie es bei uns üblich ist, egal, wie unehrenhaft dein Orden das findet.«
»Was hat denn mein Orden damit zu tun?« fragte Sturm wütend und hob sein Schwert.
»Sein Geld hat das Gift bezahlt«, gab Tivok mit trockenem Lachen zurück. Höhnisch hob auch er sein Schwert und drehte es langsam.
»W-was soll das heißen?« fragte Sturm. Sein Bein pochte, und er wankte.
»Solamnisches Geld hat mich und meine Kameraden bezahlt«, erklärte Tivok mit langsamer, freundlicher Stimme, als würde er einem kleinen, etwas dummen Kind etwas beibringen. »Der beste Schwertkämpfer deines Ordens hat mir Gold geboten und mir befohlen, hier auf deine Rückkehr zu warten.«
»Bonifaz?« fragte Sturm, obwohl er die Antwort bereits kannte. Der Drakonier begann, ihn zu umkreisen. Seine schwarze Zunge fuhr hin und her.
»Reg dich nicht auf«, spottete Tivok, der das Schwert von einer Hand in die andere nahm. »Gift verteilt sich schneller in heißem Blut.« Lachend machte er einen vorsichtigen Schritt auf den Jungen zu. »Aber es war wirklich Bonifaz«, flüsterte er melodramatisch, während seine Augen vor böser Belustigung funkelten. »Nannte sich Tückjäger – als ob wir nicht von dem großen Schwertkämpfer der Solamnier gehört hätten. Als ob wir nicht gehört hätten, wie er mit seinem Knappen redete, als sie zum Vingaard kamen. Allerdings Bonifaz, und er wird mir noch mehr Gold für deinen Kopf geben, den ich mir hole, wenn das Gift mit dir fertig ist.«
Der Drakonier kam zuversichtlich auf Sturm zu. Sein Atem schlug sich auf den Sägezähnen seines Schwerts nieder.
»Wenn ich vergiftet bin, was habe ich dann noch zu verlieren?« meinte Sturm kalt. Es war ein tollkühner, seltsam befreiender Gedanke.
Tivok zuckte ironisch mit den Achseln. Dann brach überall um sie Musik aus.
Es war ein kriegerisches Flötenspiel, eine alte solamnische Totenklage, die laut und schrill erklang. Tivok zuckte einen Augenblick erschrocken zusammen, doch bevor er wieder zu sich kam, war Sturm bei ihm und sang so laut wie an jenem eisigen Morgen im Hof des Turms:
Tivok stolperte rückwärts. Sein Schwanz peitschte wild auf den vereisten Schlamm. Die zwei Schwerter, das solamnische Erbstück und der Drakoniersäbel mit den Sägezähnen, verkanteten sich sofort. Sturm tauchte geschwind darunter, rollte dem Drakonier durch die Beine und sprang auf der anderen Seite wieder auf, wo er spielerisch mit der flachen Klinge auf den Schwanz seines Gegners klopfte.
»Hier hinter Euch, Eure Froschheit«, spottete Sturm. Er wirbelte herum und ließ sein Schwert in einem blitzschnellen Bogen herunterzischen, so daß der Drakonier all seine Schnelligkeit brauchte, um den vernichtenden Schlag abzufangen.
Tivok taumelte zurück, denn der Junge vor ihm war nur noch Schwert und Bewegung und Idee. Wo Tivoks Schwert auch hinging, Sturm parierte, als würde die Waffe selbst Bewegung und Absicht erahnen. Sturm tänzelte knapp außer Reichweite herum und sauste wie ein Kolibri immer wieder vor, um mit seiner langen Klinge blitzartig zuzustechen.
Er schien sich verdoppelt zu haben, so tapfer schlug er sich am Ufer des Vingaard.
Langsam bekam es der Drakonier mit der Angst zu tun. Mit dem Gift mußte etwas schiefgegangen sein, denn der Mensch hätte inzwischen gelähmt und hilflos sein müssen.
Hektisch sah sich Tivok um, hielt nach einer Erhöhung, Verstärkung, nach Fluchtwegen Ausschau. Seine Augen gingen immer wieder zu dem Schwert, das blitzschnell auf seine Kehle, seine Brust, sein Gesicht zustieß. Sturm tanzte und sang beim Kämpfen, und der Wind ließ die Luft über das Metall pfeifen. In der Ferne war schwach ein Flötenspiel zu erahnen.