Diesmal ließ er nichts aus. Jack Derry mit all seinem instinktiven Wissen tauchte ebenso auf wie das Elfenmädchen Mara mit seiner Reizbarkeit, seiner Musik und der verrückten Liebe zu einer feigen Spinne. Zum ersten Mal erwähnte Sturm die Druidin Ragnell, an deren Namen sich die Ratsmitglieder sichtlich erinnerten.
Doch die ganze Zeit tauchte ein Name immer wieder auf, von dem Moment, wo sich die Tür von Kastell di Caela hinter ihm geschlossen hatte, bis hin zu den letzten Worten von Tivok, dem Drakonier-Assassinen.
Bonifaz. »Tückjäger«. Fürst Bonifaz von Nebelhafen, solamnischer Ritter des Schwerts.
Verschwörer, Verräter am Maßstab.
Es war, als stünde die Welt still. Nach einer Minute des Schweigens, in der kein Wort, kein Ton, nicht das geringste Geräusch zu hören war, räusperte sich Fürst Alfred.
»Das«, fing er an, »sind überaus bedenkliche Anklagen, Meister Sturm Feuerklinge.«
»Anklagen«, fuhr Fürst Bonifaz heftig dazwischen, »für die ich Genugtuung verlangen werde!«
Zornig stieß sich der Schwertkämpfer vom Tisch ab, wobei er seinen Stuhl umwarf und Papiere und ledergebundene Bände des Maßstabs durcheinanderbrachte. Er zog sein Schwert und stellte sich mitten in den Raum, wo er sich umdrehte und alle ansah – seinen Beschuldiger und die Ratsmitglieder, die die Geschichte gehört hatten.
»Ich glaube, Fürst Alfred«, meinte Bonifaz mit vor Zorn bebender Stimme, »es steht im sechzehnten Band des kodifizierten Maßstabs, Seite sechsundzwanzig, Artikel drei, daß der Orden des Schwerts, der seinen Maßstab aus mutigen und heldenhaften Taten ableitet, alle seine Mitglieder verpflichtet, keinen Kampf für die Ehre der Ritterschaft auszuschlagen. Ich glaube, Fürst Alfred, daß hier die Ehre der Ritterschaft angezweifelt wurde.«
Gunthar stand auf und ging ruhig zu Bonifaz’ leerem Stuhl. Er hob drei von den ledergebundenen Büchern auf, die vor dem Tisch auf dem Boden lagen, und fuhr jeweils mit dem Daumen an den Seiten lang. Er lächelte trocken.
»Sturm Feuerklinge zweifelt nicht den Orden an«, stellte Gunthar richtig, dessen Augen nicht vom Hofrichter wichen. »Sondern nur einen einzelnen Ritter – Fürst Bonifaz von Nebelhafen.«
»Dann ist ein Gottesurteil angemessen«, schimpfte Bonifaz, der sich abrupt an Fürst Alfred wandte. »Fürst Alfred sollte doch seit seiner jüngsten… Kontroverse mit Fürst Adamant Jeoffrey wissen, daß dies in Ehrensachen die vorgeschriebene Regel des Maßstabs ist.«
»Aber dennoch konnten wir das durch Vernunft und guten Willen beilegen«, beharrte Gunthar.
»Durch die Schmeicheleien eines alten Mannes, der in den Wald gelaufen ist und den Orden verlassen hat!« schnarrte Bonifaz. Alle sahen den großen Schwertkämpfer irritiert an, der seinerseits an die Dachsparren blickte, wo Tauben nisteten und gurrten. Er schloß die Augen, wie um sich zu sammeln.
»Wenn Ihr Seite fünfundvierzig des bereits erwähnten sechzehnten Band anseht«, sagte er mit gedämpfter, fast raubtierhafter Stimme, »dann steht da im ersten Artikel klar und deutlich, daß bei persönlichen Streitigkeiten zwischen Ritter und Ritter das Gottesurteil zu bevorzugen ist.«
»Dreht es so oder so, Bonifaz!« rief Gunthar verärgert aus. »Muß Sturm als Ritter oder als Junge ohne Orden gelten?«
Fürst Alfred blätterte in dem vor ihm liegenden Band, doch seine Augen musterten die Mahagoniwände, denn er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Als er schließlich sprach, wurden selbst die Tauben still und hörten zu.
»Bonifaz hat recht«, erklärte er mit trockener, zitternder Stimme. »Ein Gottesurteil ist die Lösung, selbst wenn nur einer der Gegner darauf besteht. Sturm bleibt nur die Wahl zwischen scharfen oder stumpfen Waffen.«
Sturm schluckte bitter. Ihm war unbehaglich zumute.
»Egal, wie es ausgeht«, gab Fürst Alfred bekannt, »weder Anklage noch Urteil werden je diesen Raum verlassen. Und bis diese Anklage entschieden ist, wird auch keiner von uns nach Eid und Maßstab und unseren heiligen Traditionen ein Urteil fällen.«
»Turnierwaffen«, sagte Sturm leise.
Fürst Bonifaz lächelte. »Eins zu null für mich«, erklärte er.
Fürst Gunthar ging zu einer Truhe in der hinteren Ecke des Raums, aus der er die gepolsterten Weidenschwerter entnahm, mit denen die Sache entschieden werden würde. »Du hast einen grünen Jungen im Ring besiegt«, sagte er mit zusammengebissenen Zähnen zu Bonifaz.
Der Schwertritter wurde steif.
»Ich lehre den Jungen, welche Ansprüche der Maßstab stellt, Gunthar Uth Wistan«, gab Bonifaz zurück. »Wie es sein Vater gewollt hätte, wenn er noch am Leben wäre.«
»Sein Vater hätte mehr gewollt«, murmelte Fürst Gunthar. »Und er hätte es aus dir herausgeprügelt.«
»Beim Maßstab, Fürst Gunthar«, sagte Bonifaz mit frohlockender, spöttischer Stimme. »Jetzt und immer beim Maßstab, und mögen die Schwerter fallen, wie Schwerter es tun.«
24
Stumpfe Waffen und ein Urteil
Sie stellten sich in der Mitte des Saals auf, der grüne Junge und der legendäre Ritter des Schwerts. Sturm nahm seinen Schild und spielte mit seiner Waffe. Das Weidenschwert war leichter, als er gedacht hatte, und fühlte sich beruhigend vertraut an.
Das solamnische Gottesurteil war ein alter, ehrenwerter Brauch, der seit dem Zeitalter der Macht und den Tagen von Vinas Solamnus geheiligt war. Wenn gegen einen Ritter des Ordens Anklage erhoben wurde, konnte der Mann seine Unschuld mit dem Schwert verteidigen. Wenn er siegte, so galt seine Unschuld für die Zuschauer und den Orden als erwiesen, ganz gleich, welche Beweise gegen ihn vorlagen. Wurde er jedoch besiegt, so zwang ihn die Ehre, sein Verbrechen zu bekennen und die entsprechende Strafe des Maßstabs hinzunehmen.
Sturm schluckte nervös. Es war eine wichtige Sache, und er mußte gegen einen wichtigen Schwertritter antreten. Und doch keimte einen Augenblick lang Hoffnung in ihm auf. Es gab merkwürdigere Dinge im Orden, als daß ein Anfänger einen Meister im Moment des Schwankens oder Träumens erwischte.
Selbst Sturm waren schon merkwürdigere Dinge widerfahren.
Er wippte auf den Fersen und erwartete seinen berühmten Gegner.
Langsam und zuversichtlich zog Bonifaz seine weißen Handschuhe an. Er hob den Siegesschild hoch, den er vor zwanzig Jahren im Turnier gewonnen hatte. Die gekreuzten Klingen auf dem Schild waren verblichen und von den vergeblichen Schlägen und Stößen von tausend Waffen zerkratzt. Nachlässig hob der Ritter das Schwert auf, das er benutzen würde, untersuchte es auf Risse und wirbelte es wie ein Zauberspielzeug in der Hand herum, um sein Gewicht zu prüfen. Verächtlich drehte er sich zu Sturm um, dessen zeremoniellen Gruß er kalt und brüsk zurückgab.
»Wir sind bereit, Fürst Alfred Merkenin«, verkündete Bonifaz, der sich auf alte, solamnische Art verneigte, wie es die Schwertritter seit der Zeit von Vinas Solamnus taten. Zögernd hob Fürst Alfred die Hand und senkte sie wieder, worauf die Gegner einander in der Mitte des Ratssaals in immer engeren Spiralen zu umkreisen begannen.
Sturm machte den ersten Angriff, wie jeder wußte, denn der grünen Hand mangelt es an Geduld. Er trat vor und stieß blitzschnell und gekonnt nach Bonifaz.
Der ältere Ritter schnaubte, trat beiseite und schlug Sturm in derselben Bewegung das Schwert aus der Hand, so mühelos, als würde er eine Fliege verjagen. Sturm jagte seinem Schwert nach, das an einer dunklen Wand liegenblieb und seiner Hand spöttisch den Griff entgegenstreckte.
Er riß das Schwert hoch und drehte sich um. Bonifaz lehnte lachend am langen Ratstisch, wo er mit seinem Schwert spielte.
»Angriff Feuerklinge wäre wirklich begeistert«, höhnte er, »seinen Sohn geschlagen und waffenlos im Turnier zu sehen.«
Mit einem Wutschrei stürzte sich Sturm wie ein riesiges, zorniges Tier auf Bonifaz. Der Ritter wartete ruhig und wich erst im letzten Moment aus, stellte Sturm ein Bein und zog ihm mit der Breitseite des Weidenschwerts eins über. Hals über Kopf stolperte der Junge über einen am Boden liegenden Band des Maßstabs und prallte gegen einen Sekretär, dessen zierliche Beine zerbrachen.