»Genug der Philosophie«, bestimmte Raistlin. »Die steht dir nicht gut an.«
Sturm fuhr fort. Seine Augen waren aufs Feuer gerichtet. »›Es ist eine einfache Legende, Fürst Gunthar Uth Wistan‹, meinte der grüne Mann. ›Lady Hollis hat sie mir erzählt.‹
Dann stieg Hollis oder Ragnell oder wie sie auch immer heißt von dem Zentauren. – Sie waren sich nicht einig, wer sie war, wißt ihr«, erklärte Sturm, der versonnen in die glühenden Kohlen starrte. »Manche sahen eine abscheuliche Hexe von dem Zentauren steigen; andere haben eine schöne, junge Frau mit einem Efeukranz in den dunklen Haaren gesehen. Ein paar – sehr wenige – sahen überhaupt keine Druidin.«
Er schüttelte lächelnd den Kopf, und die Zwillinge sahen einander fragend an.
»Aber alle hörten Vertumnus und konnten sich deutlich an seine folgenden Worte erinnern.
›Ich habe gehört‹, verkündete der grüne Mann, ›daß eine Druidin einen so mächtigen Zauber wirken kann, daß ein Verräter – der auf abscheuliche Weise Freund und Orden und Land betrogen hat – sein Schwert nicht mehr aus der Scheide ziehen kann. So sagen jedenfalls die Druiden.‹
Der Ratssaal lag in tiefem Schweigen, erzählte Gunthar. Kein Wort fiel unter den Bannern. Dann schraken alle auf, weil sie hörten, wie eine Klinge gezogen wurde. Alles drehte sich gleichzeitig nach dem Geräusch um.«
»Bonifaz!« lachte Raistlin triumphierend. »Das dumme Großmaul ist auf einen kinderleichten Trick hereingefallen!«
»Was für ein Trick?« fragte Caramon, der über den Tisch nach mehr Brot griff. »Ich dachte, es ging um Druidensprüche.«
»Du hast recht, Raistlin«, sagte Sturm. »Der Schuft war entlarvt. Bonifaz stand schamrot und entsetzt mit halb gezogenem Schwert bei seinem Stuhl.
Vertumnus grinste bei diesem Anblick. ›Ich glaube natürlich nicht an solche Legenden, auch wenn ein paar von euch sie vielleicht ganz überzeugend finden‹, meinte er und kletterte zu Fürst Gunthar auf das Podest.
Bonifaz zog das Schwert vollends aus der Scheide und stolzierte mitten in den Saal. Ich kann mir sein Gesicht vorstellen. Ich bin sicher, daß ich seinen Ausdruck schon selbst gesehen habe. ›Will der Herr der Wildnis mich etwa finsterer Verbrechen anklagen?‹ fragte er laut, und ich wäre zu gern im Saal gewesen – ob als Fuchs oder Rabe oder auch nur als Spinne –, um zu sehen, was dann geschah.
Denn Vertumnus schüttelte nur den Kopf. ›Deine Schwerthand klagt dich an, Bonifaz von Nebelhafen‹, erwiderte er mild, und ich weiß, daß diese Milde weitere Kohlen auf die wütende Glut der Kronenhüter schaufelte.«
Wortlos stand Sturm vom Tisch auf und stellte sich erst an den Kamin, dann ans Feuer. Draußen hatte es aufgehört zu schneien, und die Sterne blinkten gelegentlich durch die tief hängenden Wolken. Am Rand des Osthimmels glänzte die weiße Sichel von Solinari am Horizont.
Vom roten Mond war nichts zu sehen.
Sturm holte tief Luft und drehte sich zu seinen Freunden um.
»›Dann soll mich mein Schwert von Beleidigung und Verleumdung reinwaschen‹, sagte Bonifaz und erhob sein Schwert zur offiziellen Forderung zum Zweikampf. Vertumnus nickte und streckte seine Schwerthand aus, und es heißt, grünes Feuer wäre über seine Finger getanzt. Dann winkte er Fürst Gunthar einmal geheimnisvoll zu und fragte flüsternd, aber gut hörbar: ›Borgt mir denn niemand hier ein Schwert?‹
Gunthar behauptet, er wüßte nicht, warum er Vertumnus sein Schwert gegeben hat. Die Kronenhüter nennen ihn einen Verräter. Den ganzen Winter und bis in den Frühling haben sie ihn noch ärger beschimpft, und selbst Fürst Alfred meint, Gunthar wäre bezaubert gewesen.
Gunthar sagt, es war etwas anderes. Er sagt, daß er trotz des Aufruhrs und der Beschuldigungen froh ist, daß er es getan hat.
Aber was es auch war, Bezauberung oder freier Wille, er zog sein Schwert und gab es Vertumnus, der sich reckte, gähnte und mitten in den Raum sprang, direkt vor Fürst Bonifaz.
›Echte Waffen, ja?‹ fragte der Herr der Wildnis.
›Turnierwaffen‹, erwiderte Bonifaz nervös und steckte sein Schwert ein, während Derek Kronenhüter sich von dem aufdringlichen Elch löste und zu der Truhe lief, in der die Weidenschwerter lagen.
›Wie du willst‹, antwortete Vertumnus. ›Also Turnierwaffen, und möge der Schwertarm des Siegers die Wahrheit ans Licht bringen.‹«Caramon beugte sich vor. Jetzt kam der Teil der Geschichte, auf den er gewartet hatte.
Otik hustete ungeduldig hinter der Theke. Er wollte schließen, doch die drei jungen Männer machten weder Anstalten, ihre Mäntel und Sachen zu holen, noch zur Tür zu gehen. Laut pfeifend, wischte der Wirt die leeren Tische ab, doch auf seinem Weg durch den Raum erhaschte er ein paar Sätze und blieb stehen, weil er wie die Zwillinge von Sturms Erzählung gebannt war.
Sturm schloß die Augen. »Dreihundert Menschen sahen erwartungsvoll zu, wie die beiden Männer einander umkreisten und die Weidenschwerter durch die rauchige Luft pfiffen. Ich weiß, wie sich das anhört. Vor gut einem Jahr habe ich es selbst gehört.
Und da ich beiden im Kampf gegenübergestanden habe, kann ich euch sagen, wie es wohl losging. Vertumnus führte seine Waffe kräftig und unbeschwert wie ein Gaukler, während Bonifaz ihn mit stärkeren, ausgefeilteren Bewegungen bedrängte. Ich hätte wetten können, daß es ein Kampf zwischen Gleichen war, auch wenn sie noch so gegensätzlich schienen.
Aber Gunthar erzählte mir etwas anderes. Er sagte, der Herr der Wildnis hätte den Kampf von Anfang an unter Kontrolle gehabt. Einmal, zweimal und ein drittes Mal parierte er Fürst Bonifaz’ Vorstöße, bis er beim dritten Mal hoch in die Luft sprang und einfach hinter seinem Gegner landete, dem er mit der flachen Klinge des Weidenschwerts einen Schlag auf den Hintern versetzte.
›Gleiches Recht für alle!‹ rief Vertumnus mit kreischendem Spott, so daß Bonifaz rot anlief und sich auf ihn stürzte. Diesmal traf Vertumnus’ Schwert den Ritter ins Gesicht und verpaßte ihm auf jeder Seite eine Ohrfeige, bevor Bonifaz dazu kam, die Hiebe zu parieren.«
»So eine… so eine Frechheit!« rief Caramon entzückt aus, und Sturm nickte, während er schuldbewußt mit seinem eigenen rachsüchtigen Entzücken kämpfte.
»Gunthar sagte, es war einfach unwürdig und daß er sich am liebsten abgewendet hätte, aber daß er das zum Glück nicht gemacht hat. Er sagte, daß er neugierig aus den Augenwinkeln zum Hofrichter geschielt hätte, dessen Schultern vor Lachen bebten.
Spielerisch trieb Vertumnus seinen Gegner rückwärts durch den Raum, ließ seine Klinge sausen und pfeifen. Er berührte die Spange an Bonifaz’ Hals mit seiner Schwertspitze, zuckte einmal mit dem Handgelenk und ließ das Ding und seinen Umhang auf den Boden fliegen. Dann nahm der grüne Mann sein Schwert in die linke Hand, hielt sich mit der rechten Hand die Augen zu und brachte Solamnias besten Schwertritter zum Stillstand. Selbst blind machte er die richtigen Paraden und übertraf Fürst Bonifaz an Geschicklichkeit und Schnelligkeit.«
Caramon pfiff leise und anerkennend. Otik hustete wieder. Mit dem nassen Lumpen in der Hand beugte er sich neben den dreien über den Tisch.
Sturm war so von seiner eigenen Geschichte gefesselt, daß alle Aufmerksamkeit und Höflichkeit dahin waren. Seufzend setzte sich Otik hinter Caramon und hörte zu, wie das Duell weitergegangen war.
»In den hinteren Ecken des Ratssaals waren ein paar von den jüngeren Rittern so hingerissen von der Tapferkeit und Kampfkunst des Herrn der Wildnis, daß sie zu applaudieren begannen. Der Herr der Wildnis bewegte sich mit den raubtierhaften Schritten eines jungen Mannes, und seine Schwerthand, die mit genialer Tollkühnheit zuschlug, verschwand im Fackellicht immer wieder, als das Schwert blitzschnell herumsauste und wie eine Flöte sang.