Und was jetzt kommt, hat Fürst Gunthar mir erzählt, und alle anderen Ritter sahen es genauso: Plötzlich krachten und bröselten die alten Steinwände des Ratssaals und trieben Äste aus. Aus den uralten Bodenfliesen sprossen Bäume, aus den Mauern drangen Ahorn, Eiche und Schwarzdorn. Vertumnus kam auf Bonifaz zu und schwenkte sein Weidenschwert.
Da wollte Bonifaz auf die nächste Tür zustürmen, wo ihm jedoch ein sehr alter Mann mit weißem Bart und grünen Girlanden überall den Weg versperrte. Das Fackellicht wurde gedämpft von seiner Rüstung und seinem Prunkschild zurückgeworfen, als der alte Mann eine Art Trompete hervorzog und einen Jagdruf blies.«
»Stephan?« fragte Raistlin mit ironischem Lächeln.
Sturm nickte. »Gunthar erkannte ihn sofort. Bonifaz wohl auch, denn er hielt sich an einem Stuhl fest, um nicht zu schwanken.
An der Tür nahm auch Fürst Stephan Kampfhaltung ein. ›Blatt zu Blatt, Herr der Wildnis!‹ jauchzte er, und neben ihm keckerte ein nervöses Eichhörnchen. ›Und mögen die Steine von Schloß Feuerklinge gegen Bonifaz von Nebelhafen ihre Stimme erheben!‹«
»Bei Paladin, das wird ja richtig aufregend!« rief Otik hinter dem gebannt lauschenden Caramon. Alle drei Freunde drehten sich überrascht zu dem stämmigen Wirt um, der rot wurde und Sturm zuwinkte. »Weiter, junger Mann. Es ist noch nicht spät, auch wenn das Haus geschlossen ist.«
Sturm nickte und kehrte zu seiner Geschichte zurück.
»Vertumnus fuhr herum, und sein Blick folgte seinem Gegner ›mit verächtlicher Erheiterung‹, wie Fürst Gunthar es nannte. Er pflückte einen Olivenzweig aus dem Dickicht über sich und wies damit auf die Ritter auf der Plattform, die beiseite gingen, derweil Bonifaz immer noch mit erhobenem Schwert zwischen den Stühlen zurückwich.
Ausgestoßen und ausgeliefert blickte der Ritter zu dem letzten Ausgang hinter dem Podest, der von einer Holzplatte verdeckt war. Auch dort stand jemand – grün und jung und irgendwie bekannt…«
Sturm lächelte bei dem Gedanken an Jack Derry. Im stillen wünschte er seinem jungen Freund alles Gute.
»Es gab also keinen Ausweg. Im überfüllten Ratssaal, mitten unter den Ordensrittern, spielte Bonifaz Kronenhüter von Nebelhafen sein letztes Spiel nach dem Maßstab.
›Beim Maßstab, Fürst Vertumnus‹, rief er mit lauter, sicherer und kampfgestählter Stimme, die sich über das Gemurmel der Ritter und das Horngetute und das Getrommel der Dryaden erhob, das in den Dachsparren wieder weiterging. ›Ich bestehe darauf, daß wir nach den Regeln des solamnischen Ordens kämpfen.‹
›Auch gut‹, stimmte Vertumnus zu. ›Aus meiner Sicht ist ein Maßstab so gut wie der andere.‹
Dann kam Bonifaz vom Podest herunter, und die Weidenschwerter prallten zum letzten Mal aufeinander.«
Hier machte Sturm eine Pause. Er trank einen Schluck Tee und blickte träumerisch ins Feuer.
Was du jedenfalls gelernt hast, Sturm Feuerklinge, dachte Raistlin, ist das Geschichtenerzählen.
»Der Ausgang«, fuhr Sturm fort, »war praktisch von Anfang an klar. Zweimal fiel Bonifaz hin, weil er genau über die Regeln stolperte, die er so gut kannte. Sein Schwert wirkte schwerfällig, seine Bewegungen waren vorhersehbar, und obwohl die Waffe des grünen Mannes sich anfangs gleichfalls langsam bewegte, wurde sie rascher und genialer geführt. Der Herr der Wildnis kämpfte nach allen Regeln der Kunst, so präzise, wie man es sich auch nur vorstellen kann, und trotzdem sagte mir Fürst Gunthar, daß Vertumnus noch Zeit für übermütiges Herumprobieren fand.
Das erste Mal stürzte Bonifaz, als er über die Stufen des Podests stolperte. Er rutschte Fürst Alfred vor die Füße, schlug sich die Hände und Knie auf und ließ das Weidenschwert los, das bis vor den Dienstboteneingang rutschte, wo Jack Derry aus dem Schatten trat und die Waffe mit dem Fuß aufhielt und in derselben Bewegung gleich zu Bonifaz zurückstieß.
Der Ritter kam taumelnd hoch, hob das Schwert auf und wirbelte zu Vertumnus herum, der höflich stehengeblieben war und gewartet hatte, bis sein Gegner wieder soweit war. Sie kreuzten ein paarmal die Klinge, doch dann griff Vertumnus mit einer Reihe ernsthafter Stöße und Schläge an, und ehe der Ritter sich ducken oder ausweichen konnte, setzte er ihm die stumpfe Schwertspitze an den Hals.
›Sei dankbar, Bonifaz‹, erklärte Vertumnus, ›denn du bist zwar ein Verräter an deinem Orden, aber kein geschickter Mörder. Auch wenn dein Geld und deine Schlauheit den Paß von Kastell di Caela nach Schloß Feuerklinge versperrten, ihn mit vierhundert Banditen besetzten, bist du kein Mörder. Agion Pfadwächter hätte den Hinterhalt bemerken müssen… hätte klugerweise umkehren müssen. Es war Zufall, daß er in jener Winternacht bei der Rebellion und Belagerung ums Leben kam‹.«
»Was?« rief Caramon aus. »Aber, Vertumnus – «
»Hat Bonifaz einen Ausweg gelassen!« rief Raistlin. »Also, so etwas! Erkennst du es nicht, Bruder? Der Maßstab bestraft Verrat mit Verbannung, Mord mit dem Tod!«
Sturm lächelte. »Für so einen… Kritiker des Ordens wie dich, Raistlin, kennst du seine Regeln aber sehr genau. Mit dieser Probe hat Vertumnus sichergestellt, daß Fürst Bonifaz bestraft wurde, ihm aber gleichzeitig vergeben.«
»Da komm’ ich nicht mit«, sagte Caramon.
»Ich auch nicht«, knurrte Otik hinter ihm.
Raistlin verdrehte die Augen. »Ist doch einfach, soweit ich sehe. Bonifaz mußte nur gestehen, daß er mit diesen Räubern verhandelt hat, wie Sturm es uns erzählt hat, und dann sagen, daß er nicht die Absicht hatte, Agion Pfadwächter oder einem seiner Ritter ein Haar zu krümmen. Die Anklage des Verrats würde bleiben, aber das Kapitalverbrechen Mord würde der Orden… übergehen. Aber auch ich begreife nicht, warum Vertumnus seinem alten Feind zu einem bequemen Exil irgendwo im Hinterland verhelfen wollte.«
»Dann hör dir den Rest der Geschichte an«, sagte Sturm.
»Die nächsten Worte des grünen Mannes an Bonifaz waren nämlich eine Warnung: ›Du kannst wählen‹, sagte er und hob im dunklen Saal seine Flöte. ›Wähle weise!‹
›Aber Verrat ist schlimmer‹, sagte Bonifaz, ›auch wenn die Strafe nur Verbannung ist. Obwohl der Mörder am Strick baumelt, ist Verrat viel schlimmer. Ich will nicht mein Leben lang dafür bezahlen. Nein‹, sagte er mit erhobener Stimme, so daß jeder im Saal sein Geständnis hören konnte. ›Ich werde dem Schwert treu bleiben und sterben, wo ich gelebt habe, in den Armen des Maßstabs. Agion Pfadwächter und seine Garnison sind tot, und ich habe sie alle getötet und ihren Tod geplant. Vielleicht bin ich ein Mörder, aber ich glaube, daß ich den Orden nie verraten habe.‹«
»So ein Narr!« rief Raistlin aus. »Wo ihm schon die Freiheit winkte… das war doch regelrecht Selbstmord!«
»Oder etwas anderes«, sagte Sturm. »Denn ich kann beim besten Willen nicht sagen, ob es Dummheit war oder das edelste Ende, das er noch wählen konnte.
Jedenfalls stieg Bonifaz ruhig vom Podest herunter und gestand allen Anwesenden seine Schuld am Tod von Agion Pfadwächter. Fassungslos über das, was geschehen war, starrte Gunthar den Herrn der Wildnis an, der finster zurückblickte. Er sagt, Vertumnus’ Augen wären ›dunkel und unergründlich‹ gewesen, und er vermutet, daß Vertumnus von seinen dasselbe gesagt hätte.«
Eine sehr lange Pause zeigte allen, daß die Geschichte zu Ende war. Nach ein paar Minuten stand Otik auf und ging wieder an seine Arbeit, während sich die drei Freunde über den Tisch anstarrten.
Sie schwiegen andächtig, während Caramon seinem Bruder sanft einen Mantel umlegte. Gemeinsam traten die drei in die Nacht von Abanasinia hinaus, und am Morgen konnten die ersten Passanten an den Spuren im frischen Schnee erkennen, wo ihre Wege sich getrennt hatten.
Aber es gab noch etwas, das Gunthar dem Sohn seines alten Freundes nicht erzählt hatte, noch etwas, das er lieber für sich behalten hatte, weil er fürchtete, daß er – selbst wenn er es nur Sturm verriet – ein echtes Geheimnis preisgab.