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Sturm schüttelte den Kopf. Eine laute, tiefe Stimme hatte ihn aus seinen Erinnerungen gerissen. Die dunklen Bilder vom Weihrauch des Klerikers und vom unnatürlich blassen Gesicht seiner Mutter wichen dem Licht, und er war wieder im Wirtshaus »Zur letzten Bleibe«.

Caramon beugte sich über den Tisch zu ihm vor und fragte ihn über die Kerzenflammen hinweg: »Hast du gehört, Sturm? Schließlich ist es unser letzter Abend vor deiner Abreise, deine Satteltaschen sind schon gepackt mit Proviant, Briefen und Andenken. Ich wünschte, du müßtest nicht partout nach Solamnia und zu diesem Bankett und dann unbedingt dort bleiben…«

»Ich habe nie behauptet, ich würde nie zurückkommen«, unterbrach ihn Sturm und verdrehte die Augen. »Ich habe es euch doch erklärt, Caramon. Es ist… eine Art Pilgerfahrt, und wenn ich im Norden ein paar Dinge erfahren habe und ein paar andere geklärt sind, komme ich zurück.«

Caramon legte seine roten Pranken an beide Seiten des Tisches und lächelte seinen förmlichen, ernsten Freund entschuldigend an. Raistlin schwieg jedoch. Er wandte sein finsteres, aufmerksames Gesicht dem Kamin zu und sah in das Feuer.

»Aber diese ganze Suche, Sturm«, erklärte Caramon. »Das könnte ein Leben lang dauern. Bei echten Rittern von Solamnia jedenfalls.«

Bei dem Wort echt zuckte Sturm zusammen.

»Und wenn es so kommt, dann erfahren wir nie, warum du überhaupt fortgegangen bist.«

»Auch das habe ich euch wieder und wieder erklärt, Caramon«, wiederholte Sturm ruhig, doch mit brüchiger, angespannter Stimme. »Wegen Eid und Maßstab, denn es ist der Eid, der die Bruderschaft von Solamnia zusammenschweißt. Darum muß ich in den Norden ziehen – nach Solamnia… ins Vingaard-Gebirge… in den Turm des Oberklerikers.«

»Wieder der Kodex«, stellte Raistlin fest, der gelassen die Stille brach.

Die anderen beiden, die ihn überragten, drehten sich gleichzeitig zu ihrem dürren Kameraden um. Da er sich in eine dunkle Nische im Vallenholzstamm lehnte, war der junge Adept halb in den Schatten verborgen.

Aus dem grauen Zwielicht sprach Raistlin weiter. Seine Stimme klang dünn und melodisch wie die hohen Töne einer Viola. »Kodex und Maßstab«, sagte er verächtlich. »Dieses ganze selbstgefällige Gehabe, das der Orden gelobt. Und die fünfunddreißig Bände von eurem Maßstab – «

»Siebenunddreißig«, stellte Sturm richtig. »Der Maßstab umfaßt siebenunddreißig Bände.«

Raistlin zuckte mit den Achseln, während er seine abgewetzte rote Robe enger um die Schultern zog. Mit vogelartiger Anmut lehnte er sich rasch nach vorn und streckte seine schmalen Hände zur heruntergebrannten Glut des Feuers aus.

»Fünfunddreißig oder siebenunddreißig«, grübelte er, wobei seine blassen Lippen sich zu einem Lächeln verzogen, »oder dreitausend. Für mich alles gleich, so verrückt und festgelegt. Du bist nicht daran gebunden, auch nur eine Regel zu befolgen, Sturm Feuerklinge. Dein Vater war ein Ritter von Solamnia – nicht du.«

»Darüber waren wir schon immer geteilter Meinung, Raistlin«, schimpfte Sturm. Er beherrschte sich wieder und lehnte sich verlegen zurück. Er wußte selbst, daß er wie ein vorwurfsvoller, alter Schulmeister klang.

Raistlin nickte und schwenkte langsam den Tee in seiner Tasse. Er starrte auf den Grund, als könnte er in den kalten Kreisen die Zukunft vorhersehen.

»Es hat auch andere Jahre gegeben, Sturm«, wisperte er. »Andere Julfeste.«

Sturm räusperte sich.

»Es ist – weil Mutter jetzt fort ist, Raistlin«, erwiderte er zögernd und blickte nachdenklich auf das glänzende, flüssige Wachs in dem dunklen, tönernen Kerzenhalter. Der Docht trieb auf der Oberfläche. Bald würde die Kerze ganz ausgehen.

»Der Orden ist die einzige Familie, die ich jetzt noch habe. Ich kann nur nach Norden gehen. Aber es ist vor allem wegen dem, was meine Mutter mir erzählt hat… über das, was in der Nacht geschah, als mein Vater verschwand.«

Die Zwillinge beugten sich vor, denn diese plötzliche Enthüllung verschlug ihnen die Sprache.

»Es gab also noch etwas?« fragte Raistlin. »Etwas, was deine Mutter dir nie erzählt hat?«

»Sie… sie hat auf den richtigen Zeitpunkt gewartet«, entgegnete Sturm, dessen Hände unsicher auf der Tischfläche lagen. »Es war nur, weil… die Pest… sie konnte nicht länger warten…«

»Dann war es auch der richtige Zeitpunkt für euch«, tröstete Caramon, der Sturm seine Riesenhand auf die Schulter legte. »Jetzt erzähl du es uns. Erzähl uns von jener Nacht.«

Sturm blickte in die neugierigen, braunen Augen seines jungen Freundes. »Also gut, Caramon. Ich werde es euch erzählen. Aber glaubt mir, das fällt mir ganz und gar nicht leicht.«»Zuallererst«, fing Sturm an, dessen Blick am Tisch hing, »kümmerte sich Fürst Angriff um mich und Lady Ilys. Er schmuggelte uns über die Weststraße hinaus, bevor die Fackeln der Bauern den Ring um das Schloß ganz schließen konnten. Soren Vardis war unser Führer, und der Schnee wirbelte über die hochgelegene Straße, sonst hätten uns die Bauern wohl leicht entdeckt. In ihrer Wut hatten sie vergessen, was der Orden für sie getan hat.«

Die Zwillinge wechselten einen fragenden Blick, und Raistlin räusperte sich. Sturm fuhr fort. Er starrte in die sterbende Flamme.

»Was meinen Vater betrifft«, fuhr er träumerisch abwesend fort, »als wir in Sicherheit waren, dachte er an das Schloß und seine Garnison. Alfred war dort und Gunthar und Bonifaz und hundert Männer, von denen Vater nur den zwanzig Rittern wirklich vertrauen konnte. Denn ihr müßt wissen, das ganze Land lief mit einem Mal zu den Bauern über, und in den Wochen vor dem Fall des Schlosses hatten sich viele Fußsoldaten insgeheim vom Orden abgewandt.«

Sturm ballte die Fäuste. Seine dunklen Augen glühten.

»Was erwartest du denn, Sturm Feuerklinge?« murmelte Raistlin. »Was erwartest du von Bauern und Räubern?« Er legte dem jungen Solamnier seine schmale Hand auf die Schulter. Die Finger des Magiers waren blaß und fast durchscheinend, und in seiner Berührung lag etwas Beunruhigendes.

Sturm zuckte mit den Achseln und kippelte mit dem Stuhl nach hinten.

»Weiter«, flüsterte Raistlin. »Erzähl uns deine Geschichte.«

»Vater stieg in den Burghof hinunter, wo sich seine Soldaten versammelt hatten. Die Männer drängten sich auf der Suche nach Wärme zusammen, denn sie zitterten in ihren fadenscheinigen Decken und abgetragenen Roben. Nur ein Dutzend fehlte, und das waren zuverlässige Ritter, die Vater abgestellt hatte, um die Mauern zu bemannen, während er Rat hielt.

Der Hof war ein Meer von grauen Gestalten und Atemwolken, und als der Morgen nahte, fiel der Schnee unablässig. Vater lief zuversichtlich vor den Truppen auf und ab und blieb nur stehen, um eine Linie im Schnee zu ziehen, wie ein echter Kommandant. Ich habe ihn selbst so gesehen, in den Kriegen gegen Neraka, aber auch für diese Männer war es noch ein echtes Schauspiel.«

Sturm hielt bewundernd inne, während ein trauriges Lächeln über sein Gesicht zog. Vor dem Gasthaus füllte sich die Sommernacht mit Musik – das ungestüme Flöten der Nachtigall übertönte das langsame, ständige Zirpen der Grillen. Einträchtig lauschten die drei jungen Burschen den Lauten der Umgebung, bis der müde Otik schwerbeladen mit halbvollen Bierkrügen und schmutzigem Geschirr an ihrem Tisch vorbeikam.

Sturm sah die Zwillinge an und nahm seine Geschichte wieder auf.

»›Wer zu mir hält‹, sagte Vater, ›bleibt stehen. Denn was uns bevorsteht, ist Schnee und Belagerung und Rebellion.‹ Dann zeigte er auf die Linie vor seinen Füßen, und es heißt, daß der Nebel sich über die ganze Truppe legte, einfach weil alle den Atem anhielten.

›Wer gehen will‹, sagte er, ›ob in Sicherheit oder in die Reihen der Aufständischen, soll diese Linie überschreiten und mit meinem Segen davonziehen.‹«

»Mit seinem Segen?« fragte Caramon.