Sturm nickte. »Er sagte Segen, so erzählen es alle. Und ich kann’s mir beim besten Willen nicht vorstellen, aber ich nehme an, wenn weder Herz noch Eid sie halten konnten, wär’s ein Verbrechen gewesen, sie in die Schlacht zu schicken.
Aber das echte Verbrechen war, was dann kam. Als achtzig von ihnen die Linie überschritten und Schloß Feuerklinge verließen…« Er ballte die Fäuste und wurde plötzlich rot, weil ihn seine eigenen Gefühle überraschten.
»Erzähl uns den Rest«, sagte Caramon, der die Hand hob, als wollte er den Wutanfall seines Freundes besänftigen.
»Vater hat kein Wort gegen diese Männer gesagt«, fuhr Sturm mit rotem, wütendem Gesicht fort. »Statt dessen holte er die Ritter von den Mauern. Dann stand nur noch diese kleine Schar im Hof, alle vom Orden.«
Raistlin räkelte sich und stand auf, um sich an den Kaminsims zu lehnen. Sturm setzte sich zurecht. Bitterkeit und Verwirrung hatten sich in ihm breitgemacht.
»Was aus denen wurde, die gingen, die sich den Bauern anschlossen, wissen nur die Götter. Ich habe gehört, daß viele der neuen Sache tapfer und gut gedient haben. Aber die, die zurückblieben, waren immer noch zuversichtlich. Denn ihr müßt wissen, daß mein Vater ihnen verraten hatte – den Rittern, und nur diesen, seiner kleinen Gruppe von Gefolgsleuten, die sich dem Eid und dem Maßstab verschrieben hatten –, daß der alte Agion Pfadwächter, damals schon über siebzig, aber immer noch voll Saft und Kraft, anrückte, um die Belagerung zu brechen. Mit fünfzig Rittern sollte er kommen, fast der gesamten Garnison von Kastell di Caela, einen halben Tagesritt südlich. Solange konnten sie auf jeden Fall durchhalten.
Jedenfalls bis ein Bote von der Kommandantin der Bauern eintraf – einer alten Druidin, deren Name meiner Mutter entfallen war –, daß Fürst Agion und seine Kompanie verraten worden waren. Einer aus Vaters Garnison hatte den Bauern die Nachricht zugesteckt, welchen Weg Fürst Agion von Kastell di Caela nach Schloß Feuerklinge einschlagen würde. Bei einem Hinterhalt in den Bergen überlebte nicht ein einziger Ritter, obwohl alle bis zum Schluß gekämpft haben. Es heißt, Agion wäre als einer der ersten gefallen.«
Sturm schloß die Augen.
»Haben sie den Verräter je gefunden?« fragte Caramon, der immer für Gerechtigkeit und Wiedergutmachung eintrat. Sturm nickte langsam.
»Angeblich ja. Immerhin suchten die Besten nach ihm – Gunthar, Bonifaz, Alfred Merkenin. Vater hatte gesagt, sie sollten es vergessen, aber sie suchten, bis Bonifaz den Verräter erwischte. Der Mann war noch nicht lange Ritter – aus Lemisch natürlich. Fürst Bonifaz beschuldigte ihn, doch der Mann stritt alles ab, so daß es einen Entscheidungskampf geben sollte. Aber in derselben Nacht hat sich der Feigling davongemacht. Es heißt, die Bauern selbst hätten ihn gehängt, jedenfalls sah Gunthar seinen Körper am Galgen baumeln, als er durch ihre Linien zog.
Am Morgen schickte Vater der Druidin eine Botschaft. Trotz ihrer natürlichen Begabung zum General und Strategen behaupteten die Bauern, daß die Druidin gerecht wäre – allzu gerecht. Da ihn die verraten hatten, denen er vertraut hatte, versuchte Vater an anderer Stelle sein Glück. Er sagte ihr, der Druidin, daß er kein weiteres Blutvergießen zwischen Solamniern wollte, ob sie nun für oder gegen den Orden waren. Und falls dies nicht möglich wäre, sollte nur sein Blut vergossen werden. Als Sicherheit für einen solchen Waffenstillstand lieferte er sich selbst den Bauern aus, die als Gegenleistung den Fürsten Alfred und Bonifaz, Gunthar und den übrigen aus Schloß Feuerklinge freien Abzug gewähren sollten. So heißt es jedenfalls«, murmelte Sturm, dessen zorniger Blick auf dem glänzenden Schild ruhte. »Denn in jener Nacht marschierte er in das Schneetreiben, und keiner der Überlebenden hat ihn je wiedergesehen.«
Im Gastraum des Wirtshauses schwiegen die Anwesenden respektvoll. Otik machte eine Pause vom Fegen und stützte sich auf seinen Besen, und das junge Mädchen, das er als Hilfe eingestellt hatte, sah von seiner Arbeit auf und hockte sich an den Schanktisch, weil es irgendwie spürte, daß dieses schmerzhafte, persönliche Gespräch Schweigen verlangte.
»Hab’ ich euch erzählt, daß Fürst Angriff sein Schicksal lachend annahm?« fragte Sturm mit merkwürdigem Lächeln. »Daß er Schild und Brustpanzer so einfach ablegte und seinem guten Freund, Fürst Bonifaz, reichte, als würde er schlafen gehen?«
Sturm schloß die Augen. Seine Stimme stockte, als er weiter erzählte.
»›Dort, wo ich hingehe, nützen sie mir nichts mehr‹, sagte er, ›diese Symbole der Ritterschaft. Und warum sorgt ihr euch?‹ fragte er sie. ›Warum steigen finstere Gedanken in euren Herzen auf?‹ Es gelang ihnen so eben, die Tränen zu unterdrücken, sagte Mutter, denn sie wußten, daß er in den Tod ging, und daß sie jemanden wie ihn nie wieder sehen würden.
Und so umarmte er am Nachmittag seine Gefährten und trennte sich von ihnen. Bald war er im Schneetreiben vor den Mauern von Schloß Feuerklinge außer Sicht geraten. Zwei Männer folgten ihm in den Sturm. Sie mißachteten die Befehle meines Vaters, weil sie ihn liebten, und einen Augenblick sahen die weinenden Männer aus der Garnison meinen Vater und die beiden, die ihm folgten, als Dreigespann von dunklen Punkten tief im Schneesturm, und dann wieder weit hinten, wo irgendwo im Schnee die Fackeln der Bauern wie ferne, tiefhängende Sterne leuchteten, und die drei schienen die dünnen, dunklen Ränge des Feindes zu betreten, ohne je zu fallen, als würden sie blind in ein undurchdringliches Dickicht wandern.«
Sturm schüttelte sich. »Aus diesem Dickicht ist der Sohn von Angriff Feuerklinge aufgetaucht, meine Freunde. Ich werde Fürst Angriff Feuerklinge oder das, was aus ihm geworden ist, aufspüren, auch wenn das Maul von Hiddukel im Weg stehen sollte, um mich zu erledigen.«
»Was ihm leicht gelingen kann, Junge«, sagte Raistlin still. »Was ihm leicht gelingen kann.«
Sturm schluckte nervös. »Ob es ihm gelingt oder nicht, es wird Zeit, daß ich es angehe. Wie gern hätte ich dein Köpfchen, Raistlin Majere. Oder Caramons Kraft. Im Turm des Oberklerikers hat es ein Hinterwäldler wie ich nicht leicht.«
»Du bist doch kein Schwächling, Sturm!« machte ihm Caramon lautstark Mut, wodurch er das Mädchen am Schanktisch aufschreckte, das eilig mit seinen Binsen in den Schatten huschte. »Du kannst doch auch reiten und führst dein Schwert viel besser als ich. Es ist bloß… bloß…«
»Ich bin kein Schwertkämpfer«, stellte Sturm fest. »Kein richtiger. Nicht so wie mein Vater oder so, wie man es im Norden gewohnt ist. Nicht einmal halb so tapfer und nicht so gut im Reiten. Frag meine Mutter. Frag unsere Freunde aus Solamnia, die nach Süden kamen, nur um mir so etwas zu sagen.«
Caramon machte den Mund auf, als ob er antworten wollte, lehnte sich dann jedoch frustriert zurück. Wieder einmal hatten ihn Worte besiegt. Irgendwo unter ihnen, auf der Straße, die durch die Vallenholzbäume nach Solace führte, erhob sich das Wiehern eines Pferdes durch den pfeifenden Nachtwind.
»Was wir beide sagen wollen«, drängte Raistlin, der aus seinen Gedanken zurückkehrte und Sturm mit einem eindringlichen, beunruhigenden Blick bedachte, »ist: Wenn du so etwas schon in Solace zu hören bekommst, wird es dir im Vingaard-Gebirge noch schlimmer ergehen. Es ist zu früh, Sturm. Der Norden ist wie ein hungriges Raubtier, und der Orden… nun, du weißt selbst, wie der Orden ist.«
»Es muß jetzt sein, Raistlin«, setzte Sturm dagegen und nahm einen Schluck von der lauwarmen, nach Rauch schmeckenden Brühe in seiner Tasse. »Es muß jetzt sein, denn – unabhängig von Kodex und Maßstab und den letzten Worten meiner Mutter – ich halte es einfach nicht mehr aus.«
»Was soll das heißen?« fragte Caramon, dessen Gedanken bereits wieder woanders waren. Aber in ihm arbeitete die Geschichte weiter: der einzigartige Angriff Feuerklinge, Meister des Schwertes, heldenhafter, edler Ritter, der es fertiggebracht hatte, bei der Belagerung von Schloß Feuerklinge furios zu verschwinden.