»Wie weit könnte ein Schoner wie dieser abtreiben?« wollte Ted wissen.
»Ich weiß nicht ganz genau, wo wir uns befinden, doch sind südwestlich von hier bestimmt einige Inseln von beträchtlichem Umfang. Der Windreiter ist vielleicht einige hundert Seemeilen weit ohne Mannschaft gesegelt.«
»Ist es nicht merkwürdig, daß der Schoner nicht schon vorher von irgendeiner Schaluppe aufgeholt worden ist?«
»Nein.« Stan schüttelte den Kopf. »Wir befinden uns meilenweit außerhalb der regulär befahrenen Inselkurse. Nur zwei Dampfer — beide britische Passagierschiffe — benutzen diese Route, und sie kommen nur einmal im Monat hier vorbei. Der eine fährt in nördlicher, der andere in südlicher Richtung zwischen Frisco und Sidney. Es sind die beiden Postschiffe, die auch Tahiti anlaufen.
Nein, der Schoner könnte ein paar Wochen treiben, ohne daß ihn jemand sichtete.« Stan sah plötzlich auf. » Mon ami, das bedeutet Bergegeld für die Araby!«
»Tut mir leid«, erwiderte Ted.
»Leid? Aber mir nicht, monsieur. Jetzt weiß ich wenigstens, daß Dad irgendwo noch lebt. Hier ist doch kürzlich kein Hurrikan gemeldet worden, oder?«
Ted schüttelte den Kopf. »Der Funker hätte bestimmt einen Bericht darüber empfangen.«
»Dann kann es sich nur um einen besonders bösen örtlichen Sturm gehandelt haben.« Stan machte eine Pause und dachte einen Moment lang tief nach. »Was meinst du wohl, weshalb der Windreiter nicht auf das Riff aufgelaufen ist?«
»Darüber zerbreche ich mir eben auch schon den Kopf«, gab Ted zu. »Vielleicht hat der Wind gedreht, nachdem die Männer das
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Boot bemannten, und der Schoner trieb vom Ufer weg.« Er stand auf. »Jedenfalls gehen wir jetzt besser wieder an Deck.«
Stan Ridley regte sich nicht. Ein verwirrter Ausdruck lag auf seinem schmalen Gesicht. »Weißt du was, Moran«, brachte er schließlich hervor, »an dieser Geschichte, an diesem Schoner hier, da ist irgendwas nicht in Ordnung — da stimmt was nicht.«
»Wie meinst du das?«
Stan stand langsam auf und schaute sich um. Im Licht der Lampe waren seine Züge blaß und angespannt. »Ich bin mir selber noch nicht ganz sicher. Aber ich kenne diesen Windreiter. Ich bin mit ihm zu den Marquesas und zu den Tuamotus gesegelt. Und deshalb weiß ich, daß jetzt irgendwas nicht stimmt.«
»Ach, du bildest dir alles mögliche ein, Ridley!«
»Vielleicht.« Seine Stimme klang nicht überzeugt. »Mon Dieu, ich fühle, daß etwas nicht stimmt.« Er hielt scharf den Atem an. »Es liegt in der Luft — um uns herum!«
Bei diesen Worten, deren tiefe Ernsthaftigkeit auf den Hörer übersprang, verspürte Ted plötzlich, wie — einer Strömung gleich — Furcht an seinen Gliedern zerrte. Seit er den Fuß an Deck des verlassenen Schoners gesetzt hatte, bekämpfte er nun schon dieses unheimliche Gefühl des Grauens, das wie eine Woge in ihm hochzusteigen und ihn zu überspülen drohte. Und nun kroch, trotz allen Wehrens, nacktes Entsetzen in ihm auf. In panischer Furcht irrten seine Blicke über die Wände der Kabine, die zurückzuweichen und ihn mit diesem unsichtbaren Feind allein zu lassen schienen.
»Ah, du fühlst es auch?« Stan starrte mit aufgerissenen Augen zu ihm hin.
Tapfer kämpfte der junge Dritte Offizier gegen jene erstickende Angst an. Zum Donner noch mal, sagte er sich energisch vor, war er nicht der Offizier, der dieses kleine Enterkommando anführte? Sollten seine Männer ihn vielleicht so sehen?
Er hob den Blick und hielt dem Forschen des anderen stand. »Ja«, bekannte er, »ich glaube, ich weiß jetzt, was du meinst. Aber es ist wohl nur die — die Atmosphäre eines Schiffes, das von seiner Mannschaft verlassen worden ist. Wir dürfen unsere Phantasie nicht mit uns davonlaufen lassen, Ridley.« Er nahm das Logbuch an sich. »Komm jetzt. Wir nehmen es mit hinüber.«
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Noch ehe sie die Stufen der Kajüttreppe erreichten, schallte hoch über ihnen ein Ruf durch die Nacht. »Ahoi, Schoner!« Es war Jarvis' dröhnende Stimme. »Ihr schwachsinnigen Untermenschen da drüben — was glaubt ihr eigentlich, wozu ich euch rübergeschickt habe? Um mitten im Ozean 'ne Teegesellschaft aufzuziehen?«
Gleich anschließend klangen Toppys jammernde Worte zu ihnen hin. »Blind will ick wer'n, wenn mir det hier jefällt! Det Ding redet — et redet, sag ick euch!«
»Ach, halt die Klappe!« Das war Smiths tiefe Stimme.
»Wegen dir doch wohl kaum, du Trankessel — wat?«
»Das reicht, Toppy.« Ted tauchte aus der Luke auf. Backbords ragte die Araby in der Dunkelheit über ihnen auf, aus allen Bullaugen strahlende Helligkeit verströmend. Sofort kam ihm der fünfzig Fuß lange Schoner nur noch wie ein sehr winziges Fahrzeug vor. Ted legte die Hände um den Mund: »Hallo, Araby! «
»Oh, da sind Sie ja wieder!« Die Worte fielen von der Brücke hoch über ihnen auf sie nieder. »Was für ein Schoner ist es, Moran?«
»Der Windreiter aus Papeete. Niemand an Bord.«
»Ein Treibwrack also, hm! Logbuch gefunden? Gut. Wer ist der Besitzer?«
»Stanhope Ridley!«
Ein kaum unterdrückter Schrei der Verblüffung kam von der Brücke des Dampfers. Das Vordeck, an dessen Reling die Mannschaft neugierig lehnte, glitt langsam an ihnen vorüber. »Wir werfen eine Trosse aus«, schrie Jarvis. »Machen Sie ihn fest. Wir nehmen ihn im Schlepp in den Hafen mit.«
»Jawohl, Sir.«
Auf dem Deck der Araby wurde das Schuffeln von Füßen laut.
Wieder kam die vertraute Stimme von drüben. »Nahrungsmittel an Bord?«
»Reichlich, Sir.«
»Nichts anrühren. Wir schicken Vorrat rüber. Lassen Sie zwei Mann dort und kommen Sie mit dem Logbuch zurück.«
»Jawohl, Sir.«
Hinter Ted wurde Toppys hohes, dünnes Gejammer hörbar:
»Lassense bloß mir nich hier, Sir — mir nich, Joe Macaroni!«
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Der Dritte Offizier wandte sich dem kleinen Londoner zu. »Sie parieren Order, Toppy.«
»Jawohl, Sir.« Sehr schwach nur.
»Jorgenson, Sie und Toppy bleiben hier.« Ein Grinsen zuckte um Teds Mundwinkel, als er sprach, »Aufgepaßt! Da kommt die Trosse. Ran, Leute!«
Ted hatte das Kommando wieder übernommen.
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2. Der Perlenhändler
Funkbericht,
den 17. April, 20 Uhr.
DS Araby:
von San Francisco nach Papeete
befindet sich 194 Meilen vor Papeete
S. F. Chronicle
»Das scheint mir weder Hand noch Fuß zu haben«, rief Jarvis.
»Verdammt und zugenäht!« Er saß am Tisch des Salons und sah seinen Dritten Offizier an. »Sie sagen also, Sie haben den Schoner gründlich durchsucht?«
»Ja, Sir«, erwiderte Ted. »Nachdem wir die Trosse festgelegt hatten, habe ich jeden Winkel durchsucht. Es war niemand an Bord — außer dem Papagei natürlich.«
Jarvis' dichte Brauen zogen sich zusammen, als er auf das Logbuch des Windreiters schaute, das offen vor ihm lag.
»Ich kann es kaum glauben.«
»Mir geht es ebenso«, stimmte ihm Ted zu.
Jarvis sah auf. »Himmelkreuzdonnerwetter — an der Geschichte hier stimmt was nicht, Joe Macaroni!« Er stand auf und war mit einem Schritt beim hinteren Bullauge, durch das er in die Nacht hinausspähte, dorthin, wo achteraus der Schoner Windreiter am Ende der Trosse lag.
»Wen haben Sie drüben gelassen?«