In diesem Augenblick wurde der Gedankengang durch den Eintritt des Kapitäns unterbrocken. Der breitschultrige Skipper der Araby blieb in der Tür stehen; sein braunes, kurzgeschnittenes Haar berührte fast den oberen Balken. Beiläufig sprach er den Mann am Ruder an. »Oh, Chapman, sind Sie je zuvor in den Tropen gewesen?«
Das schmale Gesicht des Matrosen schien zu erblassen. Seine verstörten Augen sahen den Fragenden unruhig an. »Äh — ja, nein, seit langem nicht mehr, Sir.«
»Niemals den Äquator gekreuzt, wie?«
»Nein, Sir.«
»Wissen Sie es bestimmt?«
»Wie — nun, natürlich, Sir. Kürzlich erst, als wir über den Äquator fuhren, haben die Männer Smith und mich getauft.« Ein schiefes Lächeln erschien ganz kurz auf seinen Lippen. »Das, was sie sich nun mal unter einem Spaß vorstellen, Sir.«
Ted sah, wie Kapitän Jarvis den Mann aus zusammengezogenen
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Augen betrachtete. »Ich habe mir eben Ihre Papiere angesehen, Chapman.«
Der Mann griff nervös eine Handspeiche, umklammerte sie.
»Ja?«
Das Wort war kaum mehr als ein Seufzer.
»Ihr letzter Entlassungsschein stammt von dem Dampfer Santa Clara.«
»Ja, Sir. So hieß das Schiff.«
Die Muskeln in Kapitän Jarvis' Kinnladen versteiften sich. »Wußten Sie, daß die Santa Clara regelmäßig zwischen Frisco und Valparaiso verkehrt? Die Fahrt an der Westküste Südamerikas entlang macht es für gewöhnlich nötig, den Äquator zu überqueren.«
Ted merkte, wie die dünnen Arme des Mannes zuckten. Obwohl er die Augen stur geradeaus gerichtet hielt, entnahm Ted seiner ganzen Haltung, daß sie ins Leere starrten.
»Wie lange,« fuhr Jarvis mit seiner langsamen, tiefen Stimme fort, »sind Sie zur See gefahren?«
»Fünf Jahre.« Der Adamsapfel des Mannes bewegte sich stoßend.
»Natürlich haben Sie schon eher als Rudergänger Dienst getan?
Ihre Papiere weisen Sie als Vollmatrosen aus.«
»Jawohl, Sir.«
»Dann schauen Sie gefälligst mal hinter sich!« Jarvis schritt zur Achtertür hinüber und wies übers Bootsdeck hin. »Schauen Sie sich die Linie Ihres Kielwassers mal an — wie eine Schlange, die einen Teich überqueren möchte.« Seine Stimme schwoll an, wurde gespannter, anklagender. »Sie lügen, Chapman! Sie haben nie vorher am Ruder gestanden.«
Der Mann warf einen furchtsamen Blick durch die Tür. Die Hände auf den Speichen zitterten. »Es ist schon lange her, seit ich zum letztenmal zur See gefahren bin, Sir. Ich — ich habe fast alles, was ich mal konnte, vergessen.«
»Oh, tatsächlich?« Jarvis trat dicht neben ihn; sein gewaltiger Körper überragte die dünne, schmale Gestalt des Mannes. »Und doch steht auf Ihren Entlassungspapieren, auf Grund deren Sie den Job bekamen, daß Sie am 15. März von der Santa Clara abmusterten. Sie war gerade, von Valparaiso kommend, in Frisco eingelaufen.«
Der Mann umklammerte das Ruder, als wolle er sich daran fest-
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halten. »Ich weiß, Sir. Aber ich bin nicht als Rudergänger einge-teilt gewesen.«
»Sie lügen — schockschwerenot noch mal! Moran, übernehmen Sie das Ruder.« Jarvis packte den Mann am Arm und schleuderte ihn zu sich herum, bis sie einander in die Augen sehen konnten.
»Jetzt lügen Sie mich noch einmal an, Chapman, und ich breche Ihnen jede Rippe einzeln — haben Sie das verstanden, Mann?
Ich nehme an, Sie haben von irgendeinem Matrosen den Entlassungsschein gekauft. Was haben Sie dafür bezahlt?«
»Drei Dollar, Sir.« Die Worte kamen erstickt aus seinem Mund, während er den Blick vom Gesicht des Kapitäns abwandte.
»Hm! Weshalb wollten Sie so dringend auf diesem Dampfer anheuern?«
»Ich wollte nicht unbedingt auf dieses Schiff — ich wollte nur schnell auf irgendein Schiff, Sir. Ich wollte weg.«
»Und weshalb?«
»Das kann ich Ihnen nicht sagen, Sir.« In der dünnen Stimme schwang ein neuer mutiger Unterton mit. Er hob seine blassen, verquollenen Augen und hielt Jarvis' anklagendem Blick stand.
»Dann ist Ihr Name natürlich auch nicht Chapman. Sie übernahmen einfach den Namen, den Sie auf Ihrem gekauften Entlassungsschein fanden, wie?«
»Ja.«
Jarvis nahm einen roten Gegenstand aus der Tasche. »Haben Sie das hier schon mal gesehen? Überlegen Sie es sich genau, Mann, und versuchen Sie sich zu erinnern.«
Ted sah, zur Seite blickend, einen verwirrten Ausdruck auf dem dünnen, müden Gesicht. »Nun, ja — ich glaube schon. Ja, ich kenne den Füller.«
»Woher?«
»Er gehört dem jungen Ridley, der die Koje über mir hat.«
»Und haben Sie ihn jemals benutzt?«
Der Mann schaute auf. »Ja, das habe ich. Ich habe ihn mir vergangene Nacht geliehen, um einen Brief zu schreiben.«
»Haben Sie ihn danach zurückgegeben?«
»Nein, Sir. Als ich mit dem Schreiben fertig war, schlief der Junge schon. Es war sehr spät geworden. Ich dachte, es wäre besser, ihn heute zurückzugeben.«
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»Haben Sie das getan?«
»Nein.«
Jarvis holte tief Atem. Er senkte die Stimme. »Wie ist dieser Füller in die Funkbude gekommen?«
Einen Augenblick lang starrte ihn der andere entsetzt an.
»Die Funkbude?« echote er. »Das ist doch gar nicht möglich.«
»Können Sie schwören, daß Sie den Raum nie betreten haben?«
»Ja, das kann ich. Heute morgen habe ich zwar zur Tür hineingeschaut, aber den Raum selbst nicht betreten. Außerdem hatte ich den Füller auch nicht bei mir.«
»Um welche Zeit haben Sie sich in der vergangenen Nacht hingelegt?«
Ein paar Augenblicke lang verharrte der Mann nachdenkend.
Dann hob er eine bebende Hand zum Kinn und kratzte die Stoppeln. »Schätze, es muß gegen zwei Uhr gewesen sein, als ich zu Bett ging. Es war so heiß, daß ich nicht einschlafen konnte, deshalb hatte ich einen langen Brief nach Hause geschrieben. Ich erinnere mich, daß ich um halb zwei auf die Uhr sah.«
»Um halb zwei!« Jarvis' Augen über den hohen Backenknochen begannen zu glänzen. »Wollen Sie behaupten, daß Sie um halb zwei noch mit diesem Füllfederhalter geschrieben haben?«
Ted packte die Handspeichen fester. Zum Donner, da stimmte doch was nicht! Sparks hatte gesagt, er sei kurz nach zwölf — spätestens gegen halb eins — niedergeschlagen worden. Wenn die Behauptung stimmte, wie konnte dann der Füller zur gleichen Zeit noch unter der Back gewesen sein? Sparks ... hatte Sparks etwas zu verheimlichen?
»Jawohl, Sir«, sagte der Mann, der sich Chapman nannte, soeben.
»Ich schrieb einen langen Brief und war erst kurz vor zwei damit fertig. Ich weiß es bestimmt. Als ich mich hinlegte, hörte ich die Glocke auf der Back vier Glasen schlagen.«
Jarvis antwortete nicht, und Ted wußte, daß der große Mann sich in einer Sackgasse befand. »Wie heißen Sie wirklich?« fragte er schließlich.
»Das — das möchte ich lieber nicht sagen, Sir.«
Jarvis hob die Hand in einer Geste der Verärgerung. »Ach, zum, Teufel, scheren Sie sich davon! Ich werde mich später um die Einzelheiten kümmern. Sie sind sich ja wohl darüber im klaren,
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daß ich San Francisco benachrichtigen und mich über Sie informieren kann.«
Die Haltung des Mannes versteifte sich. »Ja, das können Sie vermutlich.« Ein trotziger Ton schwang in der Stimme mit.
»Na schön. Hauen Sie ab — und zwar mit Rückenwind!«
Jarvis ging zur Tür, um der langen Gestalt nachzusehen, die eben etwas schwankend über die Kajütstreppe verschwand. »Ich will verdammt sein, wenn ich auch nur ahne, was hier vor sich geht, Joe Macaroni.«