»Glauben Sie, daß er die Wahrheit gesagt hat?«
»Heiliger Strohsack — wie soll ich das wissen? Wenn das, was er sagt, stimmt, sind wir keinen Schritt weiter gekommen.«
»Im Gegenteil«, bemerkte Ted, »unser kleines Muster ist uns völlig durcheinandergeraten. Wir werden noch mal von vorn beginnen müssen, Kapitän Tom.«
»Sie haben recht.« Jarvis zog die Stirn in Falten. »Wir haben zu viele lose Fäden — das ist das Elend:«
Er machte grübelnd eine kleine Pause. »Daß wir den Windreiter gefunden haben — kommt Ihnen das nicht zum Beispiel eine Spur unwirklich vor?«
Ted sah schnell auf. »Was wollen Sie damit sagen, Sir?«
»Nur, daß es wie ein Zufall aussieht — und ich glaube nicht an Zufälle.« Jählings warf er sich auf dem Absatz herum und schaute seinen Dritten Offizier an. »Hören Sie genau zu, Joe Macaroni«, sagte er nachdrücklich. »Ich habe bisher geglaubt, daß der Fall den wir durchleuchten wollten, zwar hart und zäh, aber im Grunde doch erklärbar sei. Inzwischen bin ich davon überzeugt, daß wir einen so gerissenen, so spitzfindigen, ja geradezu teuflischen Gegner haben, daß ich zum erstenmal nicht weiß, wohin ich mich wenden soll. Jeder Weg, den ich einschlage, führt mich gegen eine unüberbrückbare Mauer.«
Ted sah mit erregt glänzenden Augen zu der hohen Gestalt des tätowierten Kapitäns hin. »Aber es wird nicht schiefgehen, Käpt'n Tom!« rief er. »Ihnen ist noch nie was schiefgegangen.«
»Noch nie?« Die Worte kamen langsam, nachdrücklich. »Sie ahnen nicht, was mir schon alles schiefgegangen ist, Joe Macaroni. Freilich nicht mehr in letzter Zeit. Da haben Sie recht — in letzter Zeit nicht mehr. Nur beginne ich langsam am Erfolg
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meiner Mission zu zweifeln, das ist alles.« Fast mutlos ging er zur Tür hinüber. »Kommen Sie rein, Ridley«, rief er. »Übernehmen Sie das Ruder wieder.«
Teds Gedanken wirbelten wild durcheinander, als er Stan Ridley das Ruder wieder übergab. Grübelnd und gedankenabwesend starrte er durch die Tür, an der Funkbude vorüber und zu dem Schoner hin, der im Kielwasser des Dampfers folgte. Jählings riß er die Augen auf. Eine ungeheure Woge stürzte auf den Windreiter nieder. Er sah, wie der Schoner sich hob, als sei er nur ein dürres Blatt, sah, wie er augenblickslang auf dem Kamm schwebte und dann mit trunken schwankenden Masten aus dem Blickfeld verschwand. Unverzüglich sprang er zum Ruder hinüber.
»Festhalten!« rief er warnend.
Vom Bug bis zum Heck erzitterte die Araby. Sie legte sich tief auf die Seite, während ihr Hauptmast einen weiten Bogen vor dem Himmel zog. Der Bug hob sich, senkte sich ganz langsam mit einer rollenden Bewegung folgte ihm das Vordeck.
»Ganz schöner Brecher!« stieß Jarvis hervor. Er trat an die hintere Tür. »Nun, der Schoner hat's überstanden. Wir scheinen ins Schlechtwetter hineinzulaufen.« Plötzlich verstummte er und gebot mit erhobener Hand den anderen auch Schweigen. »Moment mal ... ! Hört ihr es?«
Aus der Ferne kam das summende Dröhnen eines gewaltigen Sturmes näher. Ted fühlte, wie ihm bei diesem Geräusch das Herz schneller gegen die Rippen schlug. Schwere Regentropfen klatschten aufs Deck. Der Himmel verdunkelte sich. Ein heftiger Windstoß schüttelte das Ruderhaus, rüttelte an Türen und Fenstern, blies unter die Landkarten an den Wänden. Auf der Stelle legte er sich auch wieder und ließ Stille zurück, gefährliche, bedrohliche Stille, die unheilschwangerer war als das kurze Auftoben von Wind und See.
»Innerhalb einer Viertelstunde hat der Sturm uns eingeholt«, sagte Jarvis sachlich. »Ich werde mich darum kümmern, daß drei Mann mehr auf den Windreiter übersteigen. Wir haben grad noch Zeit dazu.« Er betrachtete das Barometer an der Wand, und sein Mund zog sich zu einem dünnen, harten Strich zusammen.
»Geben Sie dem Chief durch, daß er Dampf zurücknimmt, wäh-
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rend wir das Boot runterlassen, Moran. Dann bereiten Sie sich auf einen der wüstesten Stürme vor, die Sie jemals erlebt haben.«
»Jawohl, Sir.« Der Dritte Offizier sprintete zum Maschinentelegrafen. Es gab eine Menge Arbeit, ehe der Sturm sie erreichte.
»Brauchen Sie Hilfe am Ruder?« fragte Ted Stan Ridley.
»Nein, Sir. Bis zur Ablösung schaffe ich es schon allein. Es muß ja fast acht Glasen sein.«
Ted warf einen Blick auf die Schiffsuhr an der Wand. Die Morgenwache war so rasend schnell vorbeigegangen, daß er zu seinem Erstaunen die Zeiger auf elf Uhr fünfzig stehen sah. Es blieb ihm knapp Zeit, bis zur Übernahme durch den nächsten Wachhabenden seine Arbeit zu erledigen.
Er schloß das dicke Glasfenster vor dem Ruder, machte alle Türen zu und legte das Bullauge hinten mit der Krampe fest. Dabei warf er durch das Rundglas einen Blick auf den Schoner. Wie weiß sich sein Rumpf vor der dunkelgrünen See abhob! Die Augen hebend, sah er, wie ein schwarzer Himmel auf Hauptmast und Funkantenne der Araby niederdrückte. Nahebei war der Bootsmann mit Hilfe einiger Matrosen damit beschäftigt, ein Rettungsboot niederzulassen; drunten auf dem Achterdeck warf ein weiterer Mann die Jakobsleiter über die Reling. Dem Himmel sei Dank, daß Toppy und Jorgenson bald Hilfe haben, dachte Ted erleichtert. Allein hatten die beiden kaum eine Chance, den nahenden Hurrikan auf dem Schoner lebend zu überstehen.
Sowie er abgelöst worden war, begab sich Ted in den Kartenraum unter dem Ruderhaus hinab, um seine Eintragungen ins Logbuch zu machen. Er setzte sich an den schmalen Schreibtisch, nahm das Buch aus der Lade, öffnete es beim richtigen Datum und schrieb sorgfältig den Kurs nieder, den das Schiff seit acht Uhr gelaufen war, sowie die Anzahl der Meilen, die es seit dieser Stunde zurückgelegt hatte. Dann fuhr er fort: »Drückende Hitze. Hohe Querdünung. Schiff beginnt zu rollen. Barometer fällt immer noch.«
Er hielt sich einen Moment an der Tischkante fest, als seine
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kleine Welt sich plötzlich weit nach Steuerbord neigte. Ein Bleistift rollte über die Schreibplatte; gerade rechtzeitig erwischte er ihn noch und legte ihn in eine Vertiefung. »Werden den Schoner losmachen müssen«, schrieb er weiter, »Wind kommt in Stößen. Himmel wird immer dunkler.«
Er machte eine Pause, als ein starkes Beben das Schiff durchfuhr.
Es rollte backbords, schwang dann mit einer scharfen, zitternden Bewegung in seine ursprüngliche Lage zurück. Draußen krachte eine Woge gegen den Rumpf an. Unter dem Aufprall des niederstürzenden Wasser erbebte die Araby abermals.
Ted streckte die Hand aus und knipste das elektrische Licht an.
»Schiff nimmt Wasser über Deck. Himmel schwarz wie die Nacht.«
Im Begriffe, die Löschrolle aus einem Fach zu nehmen, blieb ihm die Hand sozusagen in der Luft stehen und zitterte, wie eben noch der ganze alte Trampdampfer gezittert hatte. In seinen Ohren schwoll das Heulen des Windes zum Röhren eines gewaltigen Sturmes an, der mit ständig zunehmender Wildheit um die Aufbauten des Mittelschiffs pfiff. Mit brüllendem Tosen packte Bug und Heck — Knirschen und Kreischen von Ketten und Eisenteilen. Ted wußte, daß es nicht mehr lange dauern konnte, bis stürzende Regenmassen niederklatschten. Seine Augen glitten zu dem Stückchen Deck unter seinen Füßen. Wie — schwenkte der Dampfer etwa nach steuerbord hinüber? Das Wetter war zwar scheußlich, aber er hatte nicht geglaubt, daß es schon so schlecht war, daß Kapitän Jarvis den Kurs ändern lassen mußte.
Als das Schiff etwas sachter rollte, nahm er den Löscher und drückte ihn sorgfältig auf das Geschriebene. Dann schloß er das Logbuch und verstaute beides in die Lade. Im Aufstehen mußte er sich mit einer Hand am Schreibtisch abstützen, um das Gleichgewicht zu behalten.
Als er die Tür zu öffnen versuchte, spürte er die Gewalt des Windes wie ein schweres Gewicht dagegendrücken. Mit all seiner Kraft warf er sich gegen das Holz, bis sich allmählich ein Spalt öffnete. Unverzüglich war der kleine Kartenraum mit dem Lärmen des Sturms angefüllt. Schnell schlüpfte er auf das schmale Deck hinaus und ließ die Tür hinter sich zuknallen.