»Schön.« Stan warf den Kopf zurück und atmete tief die warme, duftende Luft ein. »Diese Richtung.«
Sie schritten eine Straße dicht am Ufer entlang. Auf der anderen Seite zog sich eine Reihe unauffälliger Gebäude hin — kleine Geschäfte, in deren offenen Türen chinesische Händler dösten, Cafes, aus denen das Gemurmel französischer Stimmen hervordrang, und schließlich ein großes Lagerhaus, das einer englischen Firma gehörte. Stan erklärte, daß sie bedeutenden Handel mit den Eingeborenen triebe. Sie gingen an Frauen in bodenlangen Mutter-Hubbard-Kleidern vorüber und an dunkelhäutigen Männern in Baumwollhosen und -hemden, deren muskulöse Körper von nackten Füßen getragen wurden. Ted ließ den Blick über den Hafen schweifen, in dem unzählige kleine Fahrzeuge vor Anker lagen, und darüber hinaus zur schmalen Durchfahrt im Riff hin.
Nicht die Spur eines nahenden Schoners war jedoch zu entdecken; ein einzelnes Ausleger-Kanu nur glitt geschwind über das stille Wasser der Lagune; im späten Nachmittagslicht blitzten die Paddel silbern auf.
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Neben einem aufwendigeren Gebäude mit der Aufschrift Poste et Telegraphe blieb Stan stehen. »Das übernächste Büro ist das meines Vaters«, flüsterte er. »Corkery sollte um diese Zeit dort zu finden sein.«
Ted folgte seinem Blick und sah einen schmalen Eingang, über dessen Tür ein Schild mit der Aufschrift Ridley & Co. hing. Ein verblüffter Ausruf ließ ihn wieder zu seinem Freund hinschauen.
»Was ist los?« wollte er wissen.
Stans Miene war völlig verwandelt; das schmale Gesicht war blutübergossen, die dunklen Augen schienen bekümmert und fast fiebrig. »Das Firmenschild ist geändert worden«, murmelte er. »Früher stand einfach Stanhope Ridley darauf. Ich verstehe es nicht — «
»Gehen wir rein«, drängte Ted.
Im kleinen Kontor war es dämmrig. Hinter einer hohen Balustrade saß an einem Schreibtisch vor der Wand ein Mann. Über seinem Kopf hing eine Landkarte. Bei ihrem Eintritt drehte er sich hastig um und stand auf. »Was kann ich für Sie tun?« fragte er kurz angebunden.
Offensichtlich erkannte Mr. Corkery den jungen Mann vor sich nicht gleich. Sein Blick streifte Stans Gesicht flüchtig und blieb auf dem des Dritten Offiziers haften. Ted sah, daß Corkery etwa fünfundvierzig Jahre alt und sehr dünn war; auf seinem knochigen Körper hing der weiße Tropenanzug wie auf einer Kleiderstange. Das Gesicht schien im Licht, das durch die Eingangstür darauffiel, nicht unangenehm, doch war es unbeweglich wie eine Maske.
»Mr. Corkery?« Stan trat einen Schritt vor.
Corkery wandte sich ihm zu und betrachtete ihn genauer. Die Augen, tiefbraun wie sein Haar, weiteten sich. Ted, der ihn scharf beobachtete, sah, wie sich die Pupillen jäh zusammenzogen. »Wie? Stan!« Ein freudloses Lächeln verzerrte den dünnen breiten Mund, bis die Oberlippe fast unter der langen, gebogenen Nase verschwand. »Um Himmels willen, Junge — wo kommst denn du her?«
»Ich bin auf der Araby angekommen«, murmelte Stan. »Da ich nicht genügend Geld für ein Schiffsbillett hatte, habe ich als einfacher Seemann angemustert.«
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»Als einfacher Matrose!« Mr. Corkerys Ton verriet zugleich Überraschung und Mißbilligung. »Mein lieber Junge«, sagte er, die kleine Tür öffnend, die zum hinteren Teil des Büros führte, »komm herein. Matrose auf einem Frachtschiff! Was würde dein armer Vater dazu wohl sagen? Ich bin gar nicht damit einverstanden, Stan.« Er zog mit einem zischenden Laut die Luft durch die Zähne. »Nein, gar nicht!«
»Dies ist Mr. Moran, Mr. Corkery — der Dritte Offizier der Araby.«
Der Mann verbeugte sich mit einem steifen kleinen Ruck. Dann zog er mit geschwinden, vogelartigen Bewegungen Stühle für sie heran.
»Wo ist mein Vater?« wollte Stan wissen.
Mr. Corkery ließ seinen dünnen Körper in den Drehstuhl hinter dem Schreibtisch gleiten; und ehe er antwortete, zog er ein Taschentuch aus der Brusttasche seiner weißen Jacke und wischte sich die Stirn ab. »Ach, mein Junge — weshalb mußt du mich das fragen? Ich wollte, ich wüßte es selbst.«
»Aber, monsieur, was wollen Sie damit sagen?« Stan lehnte sich weit vor, die Miene seines Gegenübers erforschend.
Unter Stans bohrendem Blick wich Corkery aus. Er sah zur Decke.
»Es ist schwer zu erklären. Alles ist momentan durcheinander — gräßlich durcheinander! Und dein Vater ist nicht da.«
Stan befeuchtete die Lippen; unter der Sonnenbräune wurde sein Gesicht bleich. »Was — was ist ihm widerfahren?«
Mr. Corkery spreizte die knochigen Finger in einer Geste der Resignation. »Wenn du es unbedingt wissen willst — er war an Bord des Windreiters, auf einem seiner üblichen Trips von Taiarea nach Bora Bora, als der Schoner unterging.« Seine Finger trommelten nervös auf den Armlehnen des Sessels. »Das heißt, wir halten es zumindest für höchstwahrscheinlich, daß das Schiff verloren ist. Hat nicht dein Kapitän sogar Wrackstücke gesichtet?«
Er wandte sich nun Ted zu, abschätzend und prüfend. Nach einer kleinen Pause fuhr er fort: »Seit der Schoner die Plantage verlassen hat, haben wir nichts wieder von ihm gehört, mein Junge.
Kein Wort! Nun bleibt uns nur die Hoffnung übrig, daß das Schlimmste doch nicht eingetroffen ist. Ja, wir können nur noch hoffen ... «
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Stan erhob sich und ging zum Schreibtisch hinüber. Er stützte sich mit einer Hand auf die polierte Platte. »Ich bin kein Kind mehr, Mr. Corkery. Ich möchte wissen, wie die Dinge hier stehen.«
Corkery sah zu ihm auf. »Ja, du bist gewachsen, seit du uns verlassen hast. Fast ein Mann geworden, wie?« Ein gezwungenes Lächeln huschte über sein schmales Gesicht. »Die Verhältnisse haben sich seither nicht eben gebessert, Stan. Im Gegenteil, es ist ziemlich schlimm hergegangen. Wenn du die Wahrheit wissen willst — «
»Das will ich«, fiel Stan entschieden ein, und Ted sah, daß die Hand auf der Tischplatte leicht zitterte.
»Dann — «, Corkery wies mit den Augen auf Ted, »meinst du nicht, Stan, es wäre unter diesen Umständen besser, wenn wir alleine miteinander redeten?«
»Nein. Mr. Moran ist mein Freund. Wenn er nicht gewesen wäre, hätte ich es nicht geschafft heimzukommen.«
»Aha, so ist das.« Die dünnen Lippen verzogen sich beim langsamen, betonten Sprechen.
»Fahren Sie fort. Ich möchte alles wissen.«
»Nun gut, ich werde es versuchen.« Es gelang ihm, durch den Ton seiner Stimme seinen Widerwillen gegen die Erörterung von Familienangelegenheiten in Gegenwart Fremder auszudrükken. »Seit geraumer Zeit sind die Geschäfte schon nicht mehr — nun, nicht mehr gewinnbringend gewesen. Kein Markt für Kopra oder Perlmutt, wie du weißt. Und überdies hat es bei den Lieferungen deines Vaters eine Menge Unfälle gegeben.«
»Unfälle?« Stans Atem kam schwer.
»So nannte man es — zuerst. Eine Feuersbrunst hier — ein verlorener Schoner dort. Wenn du es genau wissen willst: die Versicherungsgelder waren es, die deinen Vater überhaupt über Wasser hielten. Dann — wurden die Versicherungsgesellschaften drüben in den Staaten neugierig — schickten Leute hierher, um sich näher mit den Angelegenheiten deines Vaters zu befassen.
Das scheint ihm einen Schock versetzt zu haben. Er verlor den Kopf.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Ich meine, er begann, sich seltsam aufzuführen. So, als fürchte er sich.«
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»Das glaube ich nicht!« Stans Aufschrei füllte jählings das kleine Kontor.
Unwillige Furchen zogen die hohe Stirn des Mannes zusammen.
»Mon Dieu, wolltest du selbst denn nicht alles wissen? Ich versuche mein Bestes, dir die Lage zu erklären.«
»Schon gut. Fahren Sie fort.« Stan sank wieder auf seinen Stuhl zurück.
»Dein Vater stand am Rande des Ruins. Schließlich kam er zu mir und fragte mich, ob ich ihm helfen wolle. Natürlich war ich mit Freuden dazu bereit. Mr. Ridley ist immer sehr fair zu mir gewesen. Einen gütigeren Menschen werde ich kaum je im Leben treffen.«