Langsam bewegte der Frachter sich auf das kleine Schiff zu.
»Signal stop!« rief der Kapitän dem Maat im Ruderhaus zu. Tief drunten im Maschinenraum schrillte eine Klingel auf. Sofort glitt der alte Trampdampfer, an Fahrt verlierend, auf der Steuerbordseite neben den Schoner.
Über die zwischen ihnen liegenden achtzig Meter Wasser hinweg sah Ted, daß an Bord alles blitzblank und aufgeräumt war. Das Schiff lag still in einem Wellental; Großsegel und Focksegel flappten sacht wie müde Flügel; Klüver und Topp waren festgemacht. Ted wußte, daß es jeden Augenblick einen plötzlichen Sprung nach vorn machen konnte, um dann herumzuschwingen und wieder zu zögern. Hinter ihm ging die Sonne in glühender
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Pracht unter, und vor diesem Hintergrund hatte das Fahrzeug etwas unheimlich Lebendiges. Es erinnerte Ted an einen verwunderten Seevogel, der weit weg vom festen Land verzweifelt auf Hilfe wartete.
Nun war die Hilfe da. Kapitän Jarvis hob ein Megaphon an die Lippen, und seine tiefe Stimme schallte über das Wasser: »Ahoi — Schoner!«
Stille, geheimnisvoll, schaurig, lag wie eine Hülle über dem kleinen Schiff. Teds Blicke saugten sich an ihm fest. Das Deck war verlassen, das Ruder angelascht, Vorschot und Hauptschot festgemacht. Mittschiffs, am kleinen Deckhaus fing ein einziges Bullauge die letzten Strahlen der Sonne auf und warf sie zurück, als wolle es eine blutrote Botschaft zur Araby hinüberfunken.
Wieder ließ der Kapitän einen Ruf übers Wasser schallen, und wieder warteten die Männer gespannt. Keine Antwort war zu hören. Nur ein Windstoß, der sich in den Segeln fing, ließ den Schoner ein paar Meter vorwärtstaumeln, ehe er sich wie trunken schräg auf eine Seite legte.
Kapitän Jarvis wandte sich Ted zu. »Vielleicht liegen drüben alle krank an Deck. Bemannen Sie das Steuerbord-Boot, Moran, und gehen Sie an Bord. Wir bleiben hier liegen, bis Sie Bericht erstatten.«
Unverzüglich begann der Dritte Offizier zu handeln. Sich über die Reling beugend, rief er aufs Vorderdeck hinunter: »Bootsmann, schicken Sie Leute rauf, um das Steuerbordboot runterzulassen.«
Als Ted sich zum Gehen wandte, legte ihm Kapitän Jarvis mahnend die Hand auf den Arm. »Seien Sie vorsichtig, Dritter, wenn Sie drüben an Bord gehen. Mir gefällt die Geschichte nicht.
Gott allein weiß, was Sie unter Deck finden mögen. Wenn niemand an Bord mehr lebt oder wenn überhaupt niemand mehr da ist, versuchen Sie, das Logbuch zu finden, und schauen Sie zu, daß Sie den Namen des Besitzers entdecken und den des Hafens, in dem der Kahn registriert ist. Dann kann sich der Funker nach Näherem erkundigen. So, das war's, glaube ich. Viel Glück!«
Als Ted beim Rettungsboot ankam, gab der Bootsmann den eifrigen Leuten bereits seine Anweisungen. Unter Toppys und
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Jorgensons kundigen Händen wurde die Persenning entfernt und das Boot genügend angehoben, um aus der Wiege freizukommen. Teds Blick glitt geschwind über die versammelten Mäner und suchte diejenigen aus, die er gern mitnehmen wollte.
»He, Toppy! Sie nehmen wieder Ihren Platz im Vordersteven ein, Jorgenson.« Er zögerte einen Augenblick, als er dem flehenden Blick von Stan Ridley begegnete, der neben Gorilla Smith stand.
»Na gut, Ridley«, rief er schließlich. »Und Sie auch, Smith!«
Ted stieg leichtfüßig ins Boot. Die vier kletterten ihm nach, Toppy am Seil des Achterläufers, Jorgenson am Vorderläufer.
Die Männer an Deck schwenkten das Boot an seinem Kran über die Seite hinaus.
»Moment noch!« Tom Jarvis' Befehl schnitt durch die Luft. Sofort hielten die Leute inne. Ihr Kapitän kam die Treppe vom Ruderhaus hinunter und schritt auf den Bootskran zu. »Nehmen Sie diese Pistole mit, Moran«, sagte er ernst, Ted die Waffe über das Dollbord weg in die Tasche schiebend. »Teufel, Teufel — ich halte es wirklich für besser, daß Sie bewaffnet sind.« Die Miene des großen Mannes war grimmig, als er nun zurücktrat, um den Männern nicht im Wege zu stehen.
Am schwarzen Rumpf des alten Trampschiffes vorbei sank das Rettungsboot in die Tiefe, während Ridley und Smith es von den stählernen Flanken entfernt hielten. »Fertig!« rief der Dritte Offizier aus. »Legt ab!«
Das kleine Boot schwankte gefährlich, als eine Dünung es hochhob. Ted stemmt sein Gewicht auf das lange Steuerruder im Heck, um den Bug vom Dampfer wegzubekommen. Einen Moment später waren die Riemen draußen, und die vier Seeleute legten sich gemeinsam hinein, während sie nun genau auf den Schoner zuhielten.
Teds Augen schweiften wieder zu dem seltsamen Fahrzeug hin, das sie untersuchen sollten. Welch ein Geheimnis barg es unter Deck? Wo steckte die Mannschaft? Waren die Männer krank —
oder Schlimmeres? Sein Herz schlug schneller, als der geheimnisvolle Schoner immer näher kam. Offensichtlich schwer mit Fracht beladen, lag er so tief im Wasser, daß Ted vom Boot aus das Deck übersehen konnte. Immer noch zeigte sich keine Spur von Leben.
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Im Hintergrand glitt eben die Sonne unter den Rand des Ozeans, und sogleich sammelten sich tiefe Schatten um den Schiffsrumpf.
Ted lehnte sich schwerer auf sein Steuerruder; das Rettungsboot schnitt durch die Wellen auf das Heck des Schoners zu. Dort befand sich, mit schwarzen Buchstaben aufgemalt, der erste Hinweis auf seine Vergangenheit: Windreiter von Papeete.
Dies war also der Schoner Windreiter, in Tahiti registriert! Nun, sie würden jetzt besser schleunigst an Bord gehen, ehe es noch dunkler wurde, und nachsehen, was es sonst zu entdecken gab.
Er ließ sein Boot backbord längsgleiten. Jorgenson stand auf, den Riemen einhängend, und griff nach dem schmalen Reling über ihm.
»Festmachen«, befahl Ted. »Ich gehe an Bord.«
Während er aufstand und ins Gleichgewicht zu kommen versuchte, sah er zufällig, wie Stan Ridley ihn mit einem fremden Ausdruck betrachtete, der zumindest Sorge, wenn nicht gar blanke Furcht verriet. Nun, gab Ted vor sich selber zu, auch er war sich des Empfangs, der ihrer harrte, nicht allzu sicher. Geschwind packte er die Reling, zog sich an Bord und schaute sich im Aufstehen schon um.
Sein Blick schweifte über das aufgeräumte Deck, die weißen Segel, die gespenstergleich über ihm im Dämmer aufragten, das angelaschte Steuerruder im Heck, die offene Tür des Lukenschachts, der zur Kabine hinunterführte. Vorn und achtern waren Blechkanister aufgestapelt — wahrscheinlich voll Benzin oder Kerosin, überlegte Ted. Dann erst roch er einen süßlich ätzenden Geruch, den der Schoner zu verströmen schien. Handelte es sich um irgendeine spezielle Südsee-Fracht — oder ging der Geruch von etwas aus, das ihn drunten erwartete? Bei dem letzteren Gedanken fühlte er, wie sein Pulsschlag schneller wurde. Eine verworrene Furcht kam in ihm hoch; gegen die Wände seines Bewußtseins pochte es: Hier stimmt was nicht. Hier stimmt was nicht. Hier stimmt was nicht.
Endlich riß er sich mit beträchtlicher Anstrengung zusammen.
»Hallo«, rief er mit nicht allzu fester Stimme, »jemand an Bord?«
Atemlos wartete er. In seinen Ohren dröhnte das Gurgeln des Wassers um den Rumpf des kleinen Schiffes und das Knirschen von Seilen in der Takelage. Kein Ton drang aus der offenen
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Luke. Gewaltsam von jenem dunklen Schacht wegblickend, sah er über Backbord nach dort, wo die Araby lag, deren Bullaugen in der zunehmenden Dämmerung aufzuschimmern begannen.