Vater stellte sich vor uns hin. »Was für ein Tier ist das?« Er musste brüllen, damit wir ihn durch Mahishas Fauchen hören konnten.
»Ein Tiger«, antworteten Ravi und ich im Chor und bestätigten brav, was ja nicht zu übersehen war.
»Sind Tiger gefährlich?«
»Ja, Vater, Tiger sind gefährlich.«
»Tiger sind sehr gefährlich«, brüllte Vater. »Ihr müsst begreifen, dass ihr niemals - unter keinen Umständen - einen Tiger anfassen dürft; niemals dürft ihr ihn streicheln oder auch nur die Finger durch das Gitter stecken. Ist das klar? Ravi?«
Ravi nickte eifrig.
»Piscine?«
Ich nickte noch eifriger.
Trotzdem sah er mich weiter an.
Ich nickte mit solcher Vehemenz, dass ich mir schon ausmalte, wie im nächsten Moment mein Kopf abbrechen und zu Boden kugeln würde.
Ich möchte zu meiner Verteidigung anführen, dass ich zwar in Gedanken die Tiere mit menschlichen Eigenschaften ausstattete, bis sie das schönste Englisch sprachen - die Pfauen beschwerten sich wie britische Lords, dass ihr Tee zu kalt serviert werde, die Brüllaffen planten ihren Bankraub wie amerikanische Gangster im Film -, aber dabei nie aus den Augen verlor, dass es Phantasie war. Mit Absicht steckte ich diese wilden Tiere in selbst erfundene zahme Kostüme. Aber ich machte mir nichts vor-ich kannte die wahre Natur meiner Spielgefährten. Auch wenn ich angeblich die Nase überall hineinsteckte, war ich doch kein Dummkopf. Ich weiß nicht, wie mein Vater auf die Idee kam, sein jüngerer Sohn könne es gar nicht abwarten, zu einem gefährlichen Raubtier in den Käfig zu klettern. Aber wo immer er diese seltsame Sorge herhaben mochte - und Vater machte sich ja ständig Sorgen -, war er doch offensichtlich an jenem Morgen fest entschlossen, sich davon zu befreien.
»Ich werde euch zeigen, wie gefährlich Tiger sind«, fuhr er fort. »Ich will, dass ihr diese Lektion behaltet bis an euer Lebensende.«
Er sah Babu an und nickte. Babu ging hinaus. Mahishas Augen folgten ihm und blieben auf die Tür geheftet, durch die er verschwunden war. Ein paar Sekunden darauf kehrte er zurück, im Arm eine Ziege mit zusammengebundenen Beinen. Mutter hielt mich von hinten fest. Mahishas Fauchen wandelte sich zu einem Knurren in den tiefsten Tiefen seiner Kehle.
Babu schloss einen Käfig neben dem Tigerkäfig auf, öffnete die Tür, ging hinein, schloss die Tür und verschloss sie wieder. Stäbe und eine Schiebetür trennten die beiden Käfige. Sofort war Mahisha an den Trennstäben und versuchte die Pranke hindurchzustecken. Zu dem Fauchen stieß er nun auch noch schnaufende Laute aus, wie das Wuff eines Hundes. Babu legte die Ziege auf den Boden; ihre Flanken bebten, die Zunge hing ihr aus dem Maul, die Augen waren weit aufgerissen. Er band die Beine los. Die Ziege rappelte sich auf. Babu kam wieder nach draußen, nach derselben sorgfältigen Methode, mit der er den Käfig betreten hatte. Auf der Rückseite der Käfige, da wo es nach draußen auf die Insel ging, war der Fußboden etwa einen Meter höher als vorn, wo er auf derselben Höhe lag wie unser Boden draußen. Die Ziege erklomm diese zweite Etage. Mahisha, der nun nicht mehr auf Babu achtete, tat es ihr in seinem Käfig nach, in einer einzigen mühelosen, fließenden Bewegung. Er duckte sich und blieb dann still liegen; nur der langsam hin- und hergehende Schwanz zeugte von seiner Anspannung.
Babu ging an die Tür zwischen den beiden Käfigen und begann, sie aufzuziehen. In Erwartung seiner Beute verstummte Mahisha. Zwei Dinge hörte ich in der plötzlichen Stille - Vaters Worte »Vergesst diese Lektion niemals«, den Blick grimmig auf das Schauspiel geheftet; und das Meckern der Ziege. Sie musste schon die ganze Zeit geschrien haben, aber wir konnten sie nicht hören.
Ich spürte, wie Mutter mir die Hand auf mein pochendes Herz drückte.
Die Tür widersetzte sich mit einem schrillen Quietschen. Mahisha war außer sich - er sah aus, als würde er jeden Moment die Stäbe auseinander zwängen. Er schien hin- und hergerissen zwischen dem Impuls zu bleiben, wo er war - da wo er seiner Beute am nächsten war, sie aber nicht erreichen würde -, und jenem, zur weiter entfernten Tür im unteren Stock zu springen, die sich nun langsam öffnete. Er richtete sich auf und fauchte von neuem.
Die Ziege sprang in die Luft. Ich war überrascht - ich hatte keine Ahnung gehabt, dass Ziegen so hoch springen können. Aber auf der Rückseite des Käfigs war eine hohe, glatte Betonwand.
Plötzlich gab die Tür nach und öffnete sich. Wieder war alles still, nur das Meckern der Ziege und das Klicken der Hufe auf dem Boden waren zu hören.
Ein schwarz-orangefarbener Blitz schoss vom einen Käfig in den anderen.
In der Regel bekamen die Großkatzen einmal die Woche nichts zu fressen, was die Nahrungsverhältnisse in der Natur nachahmte. Später fanden wir heraus, dass Vater Anweisungen gegeben hatte, Mahisha schon seit drei Tagen nicht mehr zu füttern.
Ich weiß nicht mehr, ob ich das Blut spritzen sah, bevor ich mich in Mutters Arme flüchtete, oder ob ich es später in der Erinnerung dazumalte, mit breitem Pinsel. Aber die Ohren konnte ich nicht verschließen. Was ich hörte, versetzte mich in äußerste vegetarische Panik. Mutter scheuchte uns hinaus. Wir waren hysterisch. Sie kochte vor Wut.
»Wie kannst du so etwas machen, Santosh! Das sind Kinder! Die Angst werden sie ihr Leben lang nicht mehr los.«
Die Stimme war erregt und bebend. Ich sah die Tränen in ihren Augen. Gleich ging es mir besser.
»Gita, mein Täubchen, es ist doch zu ihrem Guten. Was wäre denn gewesen, wenn Piscine eines Tages die Hand durch die Gitterstäbe gesteckt hätte, weil er das schöne gelbe Fell streicheln wollte? Besser eine Ziege als er, oder nicht?«
Seine Stimme war leise, kaum mehr als ein Flüstern. Er sah zerknirscht aus. Noch nie hatte er sie in unserer Gegenwart »mein Täubchen« genannt.
Wir standen dicht an sie gedrängt. Er kam zu uns herüber. Das Schlimmste war überstanden, aber die Lektion war noch nicht vorbei.
Vater führte uns zu den Löwen und Leoparden.
»In Australien gab es einmal einen Verrückten, der hatte den schwarzen Karategürtel und dachte, er kann es mit den Löwen aufnehmen. Aber da hatte er sich verrechnet. Und zwar sehr. Am Morgen fanden die Wärter nur noch seine halbe Leiche.«
»Ja, Vater.«
Die Himalaja- und die Lippenbären.
»Ein Tatzenhieb von diesen putzigen Gesellen, und ihr könnt eure Eingeweide im ganzen Gehege einsammeln.«
»Ja, Vater.«
Die Flusspferde.
»Mit ihren lustigen Mäulern zerkauen sie eure Leiber zu Brei. Sie können schneller laufen als ihr.«
»Ja, Vater.«
Die Hyänen.
»Die kräftigsten Kiefer des Erdballs. Lasst euch nicht erzählen, sie wären feige oder fräßen nur Aas. Sie sind es nicht und sie fressen alles! Die haben schon die ersten Stücke von euch im Maul, noch bevor ihr tot seid.«
»Ja, Vater.«
Die Orang-Utans.
»Stark wie zehn Männer. Sie brechen euch die Knochen wie dürre Äste. Ich weiß, wir hatten ein paar davon im Haus, als sie noch klein waren, und ihr habt mit ihnen gespielt. Aber jetzt sind sie groß und wild und unberechenbar.«