»Ja, Vater.«
Der Vogel Strauß.
»Sieht aus wie eine Witzfigur, oder? Aber glaubt mir, kaum ein Tier im Zoo hier hat mehr Kraft. Ein Tritt, und er bricht euch das Rückgrat.«
»Ja, Vater.«
Die Rehe.
»Was für anmutige Geschöpfe, nicht wahr? Wenn der Bock sich bedroht fühlt, greift er an, und die kurzen Geweihspitzen durchbohren euch wie Dolche.«
»Ja, Vater.«
Das Dromedar.
»Ein Biss von seinem sabbernden Maul, und euch fehlt ein Stück Fleisch.«
»Ja, Vater.«
Die schwarzen Schwäne.
»Ein Schnabelhieb knackt euch den Schädel. Mit einem Flügelschlag brechen sie euch den Arm.«
»Ja, Vater.«
Im Vogelhaus.
»Mit diesen Schnäbeln beißen sie euch die Finger durch wie Butter.«
»Ja, Vater.«
Die Elefanten.
»Keiner ist gefährlicher. Mehr Wärter und Besucher kommen durch Elefanten um als durch jedes andere Zootier. Ein junger Elefant wird euch in Stücke reißen und dann die Einzelteile zertrampeln. So ist es einem Unschuldsengel in Europa gegangen, der durch ein Fenster ins Elefantenhaus geklettert war. Die älteren Tiere haben mehr Geduld. Sie drücken euch wahrscheinlich an die Wand, oder sie setzen sich auf euch. Hört sich lustig an - aber malt es euch aus!«
»Ja, Vater.«
»Wir sind nicht bei allen gewesen. Aber glaubt nicht, die anderen Tiere sind harmlos. Alles Leben verteidigt sich, egal wie klein es ist. Jedes Tier ist wild und mörderisch. Es wird euch vielleicht nicht umbringen, aber es wird euch in jedem Falle verletzen. Es wird kratzen und beißen, und was habt ihr davon? Eine eitrige, geschwollene Wunde, hohes Fieber, zehn Tage Krankenhaus.«
»Ja, Vater.«
Wir kamen zu den Meerschweinchen, den einzigen anderen-neben Mahisha-, die auf Vaters Geheiß am Vorabend nichts zu fressen bekommen hatten. Vater schloss den Käfig auf. Er zog eine Tüte mit Futter aus der Tasche und streute es auf dem Boden aus.
»Seht ihr die Meerschweinchen?«
»Ja, Vater.«
Die Ärmsten waren so ausgehungert, dass sie sich kaum auf den Beinen halten konnten, und stürzten sich gierig auf ihre Kornähren.
»Also die« - er beugte sich vor und nahm eins in die Hand -, »die sind nicht gefährlich.« Die anderen Meerschweinchen liefen sofort davon.
Vater lachte. Er gab mir das quiekende Meerschwein in den Arm. Die Lektion sollte auf einer heiteren Note enden.
Das Tier saß verschüchtert auf meinem Arm. Ein Junges. Ich ging zum Käfig und setzte es vorsichtig wieder ab. Sofort lief es zu seiner Mutter. Der Grund dafür, dass diese Meerschweinchen nicht gefährlich waren - dass sie nicht mit Zähnen und Krallen blutige Wunden schlugen -, war, dass sie so gut wie zahm waren. In der freien Natur ein Meerschwein mit der bloßen Hand zu fassen, das wäre, als ob man in die Klinge eines Messers fasst.
Der Unterricht war vorüber. Ravi und ich schmollten und sahen Vater eine ganze Woche lang nicht an. Auch Mutter ging ihm aus dem Wege. Als ich an der Rhinozerosgrube vorüber kam, hatte ich das Gefühl, die Nashörner sähen traurig aus, als vermissten sie den Gefährten, der sein Leben gelassen hatte.
Aber wenn man seinen Vater nun einmal liebt, was will man da machen? Das Leben geht weiter, und man nimmt sich in Acht vor Tigern. Ich selbst war ja ohnehin so gut wie tot, weil ich Ravi eines Verbrechens bezichtigt hatte, das gar nicht existiert hatte. Noch Jahre später, wenn er in der Stimmung war, mich zu quälen, flüsterte er mir zu: »Warte nur, bis wir zwei alleine sind. Die nächste Ziege bist du!«
Kapitel 9
Im Mittelpunkt der Kunst und Wissenschaft des Zoobetriebs steht es, die Tiere an die Gegenwart von Menschen zu gewöhnen. Dazu muss man die Fluchtdistanz verringern - den Abstand, den das Tier zu einem Feind hält. Ein Flamingo in der Natur fühlt sich nicht bedroht, wenn man auf hundert Meter Abstand bleibt. Kommt man näher, geht er zunächst in Fluchtbereitschaft. Nähert man sich noch weiter, fliegt er auf und landet erst, wenn die Hundert-Meter-Distanz wiederhergestellt ist oder Herz und Lungen erschöpft sind. Jedes Tier hat seinen typischen Abstand, und jedes wacht auf seine Weise darüber: Katzen mit den Augen, Rehe mit den Ohren, Bären mit der Nase. Nähert man sich mit einem Fahrzeug einer Giraffe, lässt sie einen bis auf zehn Meter heran; kommt man hingegen zu Fuß, läuft sie schon bei fünfzig Metern davon. Winkerkrabben bringen sich in Sicherheit, wenn man bis auf drei Meter an sie herankommt; Brüllaffen regen sich, sobald man die Sieben-Meter-Grenze an ihrem Baum überschreitet; die Schwelle von Wasserbüffeln liegt bei fünfundzwanzig.
Unser Wissen über ein Tier sowie Nahrung, Unterkunft und der Schutz, den wir bieten, sind Mittel, die Fluchtdistanz zu verringern. Wenn es gut geht, bekommen wir ein emotional stabiles, entspanntes Tier, das nicht nur bleibt, wo es ist, sondern gesund dabei bleibt, ein langes Leben lebt, immer seinen Teller leer isst, sich gemäß seiner Natur gesellig verhält und - stets das beste Zeichen - Nachwuchs bekommt. Ich weiß nicht, wie unser Zoo im Vergleich zu San Diego oder Toronto oder Berlin oder Singapur abgeschnitten hätte, aber einen guten Zooleiter hält nichts auf. Vater war ein Naturtalent. Was ihm an fachlicher Ausbildung fehlte, machte er durch Intuition und ein aufmerksames Auge wieder wett. Er sah ein Tier an und wusste, wie ihm zumute war. Er kümmerte sich um seine Schützlinge, und zum Dank waren sie fruchtbar und mehrten sich, manche davon im Übermaß.
Kapitel 10
Trotz allem wird es immer wieder Tiere geben, die aus einem Zoo ausbrechen wollen. Tiere, die in unpassender Umgebung gehalten werden, sind das offensichtlichste Beispiel. Jedes Tier hat einen bestimmten Lebensraum, den es auch im Zoo braucht. Wenn sein Gehege zu sonnig ist oder zu feucht oder zu leer, wenn sein Platz zu hoch oder zu offen liegt, der Boden zu sandig ist, die Äste zu licht sind, um ein Nest zu bauen, wenn der Futtertrog zu tief steht, wenn es nicht genug Schlamm gibt, um sich darin zu suhlen - und tausend weitere Wenns -, dann ist das Tier nicht zufrieden. Es genügt nicht, die äußere Erscheinung seines Lebensraums in der Wildnis zu kopieren - was man nachbilden muss, ist das Wesen dieses Raums. Jede Einzelheit in einem Gehege muss genau richtig - anders gesagt, auf die Grenzen der Anpassungsfähigkeit des Tieres eingestellt - sein. Der Teufel soll die schlechten Zoos mit ihren schlechten Gehegen holen! Weltweit bringen sie die Zoos in Verruf.
Ebenfalls zum Ausbruch neigen Tiere, die man ausgewachsen in freier Wildbahn fängt; oft sind sie schon zu fest in ihrer Umgebung verankert, um sich an einem neuen Ort noch einmal von Grund auf neu zu orientieren.
Doch selbst Tiere, die im Zoo zur Welt gekommen sind und die Wildnis nie gesehen haben, Tiere, die bestens an ihr Leben im Gehege angepasst sind und Menschen nicht als Bedrohung empfinden, geraten bisweilen in eine Erregung, die sie zu Fluchtversuchen treibt. In jedem lebendigen Wesen gibt es eine Spur Irrsinn, die sich in unerwartetem, manchmal unerklärlichem Verhalten äußert. Dieser Irrsinn kann nützlich sein, er ist notwendig für die Fähigkeit, sich anzupassen; ohne ihn würde keine Tierart überleben.
Aber ob nun irrsinnig oder nicht, ganz gleich aus welchem Grunde ein Tier ausbrechen will, sollte eines den Zookritikern klar sein: Tiere fliehen nicht irgendwohin, sondern sie fliehen vor etwas. Etwas in ihrem Territorium hat ihnen Angst eingejagt - das Eindringen eines Feindes, der Angriff eines Artgenossen, ein Geräusch - und hat sie in die Flucht getrieben. Der Fluchtinstinkt gewinnt die Oberhand. Im Zoo von Toronto - ein sehr schöner Zoo übrigens - habe ich gelesen, dass Leoparden aus dem Stand sechs Meter hoch springen können. Die Mauer auf der Rückseite unserer Leopardengrube in Pondicherry war nur fünf Meter hoch; Rosie und Copycat sind also anscheinend nicht deswegen dort geblieben, weil sie nicht herauskonnten, sondern weil sie keinen Grund hatten zu gehen. Ein Tier, das aus dem Zoo flieht, begibt sich vom Bekannten ins Unbekannte - und wenn es etwas gibt, was ein Tier wirklich hasst, dann ist es das Unbekannte. Entflohene Tiere verstecken sich in der Regel an der ersten Stelle, die ihnen Sicherheit verspricht, und gefährlich werden sie nur dem, der ihnen dabei in die Quere kommt.