Kapitel 11
Nehmen wir zum Beispiel den Fall des schwarzen Leopardenweibchens, das im Winter 1933 aus dem Züricher Zoo entwich. Sie war noch nicht lange im Zoo und vertrug sich, soweit man sah, mit dem männlichen Leoparden. Spuren von Prankenhieben ließen aber doch auf ein angespanntes Eheleben schließen. Bevor eine Entscheidung gefällt war, was weiter getan werden sollte, zwängte sie sich durch ein Loch in ihrer Käfigdecke und entschwand in die Nacht. Als bekannt wurde, dass eine wilde Raubkatze sich irgendwo in der Stadt versteckt hielt, geriet die Bürgerschaft in Aufruhr. Fallen wurden aufgestellt und Jagdhunde losgelassen. Aber die befreiten den Kanton nur von den wenigen streunenden Hunden, die es dort gab. Zehn Wochen lang fand sich keine Spur von dem Leoparden. Schließlich stieß ein Gelegenheitsarbeiter auf ihn, unter einer Scheune vierzig Kilometer vor der Stadt, und erschoss ihn. In der Nähe wurden Überbleibsel von Rehen gefunden. Dass eine große, schwarze tropische Katze über zwei Monate lang im schweizerischen Winter überleben konnte, ohne dass jemand sie sah, und dass diese Katze nicht im Traum daran dachte, jemanden anzugreifen, zeigt, dass Tiere, die aus einem Zoo entweichen, keine entflohenen Sträflinge sind, sondern einfach nur Geschöpfe der Natur, die einen Platz zum Leben suchen.
Und das ist nur einer von vielen Fällen. Wenn Sie eine Stadt wie Tokio auf den Kopf stellten und kräftig schüttelten - Sie würden staunen, was da an Tieren herausfiele. Nicht nur Katzen und Hunde. Da spannen Sie besser den Regenschirm auf, denn es würde Boa Constrictors, Komodowarane, Krokodile, Piranhas, Strauße, Wölfe, Luchse, Wallabies, Manatis, Stachelschweine, Orang-Utans und Wildsauen regnen. Und da dachten sie allen Ernstes, sie könnten - ha! Mitten im mexikanischen Dschungel, das stelle sich einer vor! Ha! Ha! Lächerlich, einfach lächerlich. Was die Leute sich denken!
Kapitel 12
Manchmal wird er wütend. Das liegt nicht an mir (ich sage kaum etwas), er redet sich selbst in Rage. Mit seiner eigenen Geschichte. Die Erinnerung ist ein Ozean, und er hüpfthoch oben auf den Wellen. Ich habe immer Angst, dass er einfach aufhört. Aber er redet weiter. Er will ja erzählen. Selbst nach so vielen Jahren geht ihm Richard Parker nicht aus dem Sinn.
Er ist ein so liebenswürdiger Mann. Jedes Mal wenn ich ihn besuche, kocht er mir ein südindisches Essen, ein vegetarisches Festmahl. Ich habe ihm einmal gesagt, ich äße gern scharf. Ich weiß auch nicht, wie ich auf eine dermaßen dumme Idee gekommen bin. Das war gelogen. Löffel um Löffel Joghurt gebe ich hinzu. Aber es nützt nichts. Jedes Mal dasselbe. Meine Geschmacksknospen strecken alle viere von sich, ich werde puterrot, Tränen schießen mir in die Augen, mein Kopf brennt lichterloh, und meine Eingeweide winden sich in Qualen wie eine Boa Constrictor, die einen Rasenmäher verschluckt hat.
Kapitel 13
Wenn Sie also in eine Löwengrube fallen, wird der Löwe Sie nicht deswegen zerreißen, weil er Hunger hat - glauben Sie mir, Zootiere bekommen reichlich zu fressen - oder weil er ein so blutrünstiger Geselle ist, sondern weil Sie in sein Revier eingedrungen sind.
Deswegen, um das hier nebenbei zu erwähnen, muss ein Löwendompteur im Zirkus immer als Erster in den Ring gehen, und zwar so, dass die Löwen ihn sehen. Damit gibt er ihnen zu verstehen, dass der Ring sein Territorium ist und nicht ihres, und er unterstreicht es mit Rufen, Auf-den-Boden-Stampfen und Peitschenknallen. Die Löwen werden kleinlaut. Sie fühlen sich unterlegen. Sehen Sie doch nur, wie sie hereinkommen - die mächtigen Jäger, »Könige der Tiere«, kommen angekrochen, lassen den Schwanz hängen, drängen sich an den Rand der Manege, die stets rund ist, damit sie keine Ecke haben, in die sie sich drücken können. Die Manege wird beherrscht von einem höchst dominanten Mann, einem Super-Alphatier, und seinen Dominanzgesten müssen sie sich unterordnen. Also reißen sie das Maul auf, setzen sich auf Kommando, springen durch papierbespannte Reifen, kriechen durch Röhren, gehen rückwärts, machen Rollen. »Ein komischer Kerl«, denken sie benommen. »So einen Oberlöwen habe ich noch nie gesehen. Aber er hält das Rudel in Schuss. Die Speisekammer ist gut gefüllt und - seid mal ehrlich, Leute - man hat immer was zu tun. Immer nur dösen ist doch auf die Dauer ganz schön langweilig. Und wir müssen ja nicht Rad fahren wie die Braunbären oder Teller auffangen wie die Schimpansen.«
Aber der Dompteur sollte gut aufpassen, dass er auch immer das Super-Alphatier bleibt. Wehe ihm, wenn er ohne es zu merken auf den Betaplatz rutscht. Ein Großteil der Feindseligkeit und des aggressiven Verhaltens bei Tieren ist Ausdruck einer sozialen Unsicherheit. Das Tier, das vor Ihnen steht, will wissen, woran es ist - ob es über- oder ob es unterlegen ist. Das ganze Leben eines Tiers dreht sich um Rangstrukturen; der Rang entscheidet, wo und wann es fressen kann, wo es ruhen kann, wo es trinken kann und so weiter. Solange es seinen Rangplatz nicht kennt, lebt ein Tier in unerträglicher Anarchie. Es bleibt nervös, reizbar, gefährlich. Der Dompteur im Zirkus nutzt den Umstand, dass bei den höheren Tieren der Rangplatz nicht unbedingt durch brutale Gewalt bestimmt wird. Hediger (1950) schreibt: »Wenn zwei Geschöpfe sich begegnen, wird derjenige, dem es gelingt, den anderen einzuschüchtern, als der Ranghöhere anerkannt, und zu einer solchen Rangentscheidung ist nicht immer ein Kampf erforderlich; in manchen Fällen genügt die bloße Begegnung.« Worte eines weisen Tierkenners. Hediger war viele Jahre lang Zooleiter, zuerst in Basel, dann in Zürich. Er war ein Mann, der wusste, wie Tiere miteinander umgehen.
Mit Verstandeskraft lässt sich Körperkraft übertrumpfen. Den Aufstieg zum höchsten Rang verdankt der Dompteur der Psychologie. Die unnatürliche Umgebung, die aufrechte Haltung des Dompteurs, seine Ruhe, sein fester Blick, die Art, wie er furchtlos voranschreitet, sein seltsames Brüllen (denn so werden Peitschenknall und Trillerpfeife empfunden) - all das verwirrt und verunsichert die Löwen, aber es schafft klare Verhältnisse, und darauf kommt es ihnen ja in erster Linie an. Zufrieden überlässt die Nummer zwei der Nummer eins die Führung, und Nummer eins kann ins Publikum brüllen: »Und jetzt die Sensation, meine Damen und Herren, der Sprung durch den Feuerreifen ...«
Kapitel 14
Interessant ist, dass der Löwe, der am willigsten bei den Kunststücken des Dompteurs mitmacht, der Rangniederste im Rudel ist, das Omegatier. Er hat bei einem guten Verhältnis zum Super-Alpha-Dompteur am meisten zu gewinnen. Und es geht um mehr als die kleinen Happen zur Belohnung. Eine gute Beziehung zum Anführer schützt ihn vor den Angriffen der anderen. Dieses besonders willige Tier, das für die Zuschauer genauso »wild« aussieht wie die anderen, ist der Star der Show, und die streitlustigeren Betaund Gammalöwen lässt der Dompteur als Statisten auf ihren bunten Fässern sitzen.
Dasselbe Verhalten kann man auch bei anderen Zirkustieren und im Zoo beobachten. Die sozial unterlegenen Tiere sind immer die, die sich am eifrigsten um ein gutes Verhältnis zum Wärter bemühen. Sie sind besonders treu, suchen besonders seine Gesellschaft, leisten am wenigsten Widerstand. Man hat es bei Großkatzen beobachtet, bei Bisons, bei Hirschen, bei Wildschafen, Affen und bei vielen anderen Tieren. Jeder, der sich in Zoos auskennt, kann Geschichten davon erzählen.