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Kapitel 15

Sein Haus ist ein Tempel. Auf dem Flur hängt ein gerahmtes Bild Ganeshas, des Gottes mit dem Elefantenkopf. Rosig sieht er einen an, schmerbäuchig, eine Krone auf dem Kopf, ein Lächeln auf den Lippen; drei Hände halten Gegenstände, die vierte ist, die Handfläche nach außen, zum Segen oder zum Gruß erhoben. Er ist der Gott des Glücks, der, der alle Hindernisse überwindet, der Gott der Weisheit, der Gott der Gelehrsamkeit. Sehr simpatico. Ich muss ihn nur ansehen, schon bin ich gut gelaunt. Zu seinen Füßen wartet eine Ratte. Sein Reittier. Denn wenn der Gott Ganesha auf Reisen geht, dann reitet er auf einer Ratte. An der Wand gegenüber hängt ein schmuckloses hölzernes Kreuz.

Im Wohnzimmer steht auf einem Tischchen neben dem Sofa ein Bild der Muttergottes von Guadalupe, Blumen quellen aus ihrem offenen Umhang. Daneben, ebenfalls eine gerahmte Fotografie, die schwarz verhüllte Kaaba, das Allerheiligste des Islam, umgeben von der zehntausendfachen Schar der Gläubigen. Auf dem Fernseher steht eine Messingstatue, Shiva in Gestalt Natarajas, des Herrn des Tanzes, der die Bewegungen des Universums und den Fluss der Zeit beherrscht. Er tanzt auf dem Dämon der Dummheit, die vier Arme ausdrucksvoll ausgestreckt, ein Fuß auf dem Rücken des Dämons, einer in der Luft. Wenn Nataraja mit diesem Fuß auftritt, heißt es, wird die Zeit innehalten.

In der Küche ist ein Schrein. Er hat ihn in einem Schrank eingerichtet, dessen Tür durch einen handgesägten Bogen ersetzt ist. Halb verborgen hängt dahinter eine gelbe Glühbirne und erleuchtet nachts das Heiligtum. Hinter dem kleinen Altar stehen zwei Bilder: seitlich noch einmal Ganesha, in der Mitte in einem größeren Rahmen, lächelnd und blauhäutig, Krishna als Flötenspieler. Beide haben, auf dem Glas des Bilderrahmens, rote und gelbe Puderflecken auf der Stirn. In einer Kupferschale auf dem Altar drei silberne Murtis, Götterfiguren. Er weist mit dem Finger darauf und erklärt mir, wer es ist. Lakshmi; Shakti, die Muttergöttin, in Gestalt der Parvati; und Krishna, diesmal als wonnig krabbelndes Baby. Zwischen den beiden Göttinnen liegt ein steinernes Shiva yoni linga, das aussieht wie eine Avocado, aus deren Mitte sich ein stämmiger Phallus erhebt, ein Hindusymbol, das die männlichen und weiblichen Energien des Kosmos verkörpert. Auf der einen Seite der Schale steht auf einem Sockel ein kleines Schneckenhaus, auf der anderen ein silbernes Glöckchen. Überall liegen Reiskörner, dazu eine Blume, die eben zu welken beginnt. Viele Stücke tragen die gelben und roten Flecken.

Auf dem Regalbrett darunter finden sich rituelle Gerätschaften: ein Krug mit Wasser, ein Kupferlöffel, eine Öllampe mit gewundenem Docht, Räucherstäbchen sowie Schälchen mit rotem und gelbem Puder, Reiskörnern und Zuckerwürfeln.

Im Esszimmer hängt ein weiteres Marienbild.

Oben im Arbeitszimmer sitzt gleich neben dem Computer ein Ganesha aus Messing mit gekreuzten Beinen, an der Wand hängt ein hölzernes Kruzifix aus Brasilien, und in der Ecke liegt ein grüner Gebetsteppich. Das Kruzifix ist eine sehr expressive Darstellung des Schmerzensmanns. Der Teppich hat einen Teil des Raumes für sich. Daneben auf einem niedrigen Bücherständer ein Band, mit einem Tuch abgedeckt. In der Mitte des Tuches steht, kunstvoll eingewoben, ein einzelnes arabisches Wort, vier Buchstaben: ein alif, zwei lams und ein ha. Der Name Gottes.

Auf dem Nachttisch eine Bibel.

Kapitel 16

Werden wir nicht alle geboren wie Katholiken - unwissend und ungläubig, bis jemand uns mit Gott bekannt macht? Und ist das geschehen, ist für die meisten von uns die Sache auch schon erledigt. Verändert sich etwas, ist es eher ein Verlust als ein Zugewinn; vielen Menschen geht anscheinend Gott im Laufe ihres Lebens verloren. Doch anders bei mir. Mein erstes religiöses Erlebnis verdanke ich einer älteren, traditionsbewussteren Schwester meiner Mutter, die mich fast noch als Neugeborenes mit in einen Tempel nahm. Tante Rohini war so begeistert, als sie ihren kleinen Neffen sah, da wollte sie die Muttergöttin an ihrer Freude teilhaben lassen. »Es wird ein symbolischer erster Ausflug«, sagte sie. »Ein Samskara!« Symbolisch war es. Es geschah in Madurai, ich hatte gerade erst eine siebenstündige Zugfahrt überstanden. Aber das spielte keine Rolle. Auf der Stelle brachen wir zu diesem hinduistischen Initiationsritus auf; Mutter trug mich im Arm, die Tante trieb sie voran. Eine bewusste Erinnerung an diesen ersten Tempelbesuch ist mir nicht geblieben, aber ein Weihrauchduft, ein Spiel von Licht und Schatten, eine Flamme, ein Farbfleck, etwas von der geheimnisvollen Würde des Ortes muss mich beeindruckt haben. Der Keim religiöser Begeisterung, nicht größer als ein Senfkorn, war gesät und ging in mir auf. Und bis zum heutigen Tag hat die Frucht nie aufgehört zu wachsen.

Ich bin Hindu, weil ich die kunstvollen roten Kegel aus Kumkumpulver liebe, die Körbe mit gelbem Kurkuma, die Blumengirlanden und Kokosnussstückchen, das Glöckchenklingeln, mit dem man Gott sagt, dass man da ist, die Trommeln und die schluchzende Flöte, das Patschen nackter Füße auf den Steinböden dunkler, von einzelnen Lichtstrahlen erhellter Korridore, den Duft von Weihrauch, die Flammen der Aratilampen, die im Dunkel kreisen, die leise gesummten Bhajans, die Segen spendenden Elefanten, die bunten Wandgemälde, die ebenso bunte Geschichten erzählen, die Stirn, auf der in wechselnden Farben stets dasselbe Wort steht- Glaube. All das waren Sinneseindrücke, denen ich ergeben war, lange bevor ich wusste, was sie bedeuteten oder wozu sie da waren. Meine Seele will es so. In einem Hindutempel fühle ich mich zu Hause. Ich spüre, dass etwas da ist-nicht persönlich, so wie man die Gegenwart eines anderen Menschen spürt, sondern etwas Größeres. Mein Herz stockt auch heute noch, wenn ich im Allerheiligsten das Murti sehe, das Bild des Göttlichen. Wahrlich, ein kosmischer, heiliger Schoß umgibt mich, ein Ort, an dem alles zur Welt kommt, und ich bin ein Glücklicher, der vordringt zum lebendigen Kern. Wie von selbst vereinen sich meine Hände zum Gebet. Ich sehne mich nach Prasad, dem süßen Opfer, das Gott uns gesegnet zurückgibt. Meine Handflächen warten auf das Feuer der heiligen Flamme, deren Segen ich meinen Augen und meiner Stirn bringe.

Aber Religion ist mehr als nur Ritus und Ritual. Dahinter steckt das, wofür Ritus und Ritual stehen. Und auch da bin ich Hindu. Die Welt mit Hinduaugen gesehen ist eine Welt voller Sinn. Es beginnt mit Brahma, der Weltseele, dem Rahmen, auf dem der Stoff des Lebens gewebt wird, mit allem Zierrat aus Zeit und Raum. Dann kommt Brahma nirguna, das Ungestaltete, Unbegreifliche, Unbeschreibliche, Unnahbare - mit unseren armseligen Worten nähen wir ihm ein Kleid - das Eine, das Wahre, das All, das Absolute, die Seele der Schöpfung, der Urgrund des Seins - und versuchen es passend zu machen, aber Brahma nirguna platzt doch immer wieder aus den Nähten. Wir bleiben sprachlos zurück. Zum Glück haben wir Brahma saguna, das Gegenständliche, und da passt das Kleid. Heute nennen wir es Shiva, Krishna, Shakti, Ganesha; es ist uns, innerhalb gewisser Grenzen, begreifbar; bestimmte Attribute sind auszumachen - liebevoll, gnädig, angsteinflößend —, und wir spüren, dass eine Beziehung möglich ist. Brahma saguna, das ist Brahma für unsere begrenzten Sinne begreiflich gemacht, die Weltseele, die nicht auf das Göttliche begrenzt ist, sondern sich in Menschen, Tieren, Bäumen ausdrückt, in einer Hand voll Erde, denn es gibt nichts auf der Welt, das nicht eine Spur des Göttlichen in sich trägt. Im Grunde ist Brahma nichts anderes als Atman, die spirituelle Kraft in uns, das, was man Seele nennen könnte. Die Seele des Einzelnen bezieht ihre Kraft aus der Weltseele, so wie ein Brunnen vom Grundwasser schöpft. Das, was das Universum über Gedanken und Sprache hinaus erhält, und das, was in unserem Inneren steckt und nach Ausdruck ringt, ist ein und dasselbe. Das Endliche im Unendlichen, das Unendliche im Endlichen. Wenn mich jemand fragen würde, wie Brahma und Atman zusammengehören, dann würde ich sagen, genau wie Vater, Sohn und Heiliger Geistim Mysterium vereint. Aber eines ist klar: Atman versucht Brahma Gestalt zu geben, er sucht die Einheit mit dem Absoluten, er zieht wie ein Pilger durchs Leben, wo er geboren wird und stirbt und wieder geboren wird und wieder stirbt und noch einmal und noch einmal, bis es ihm gelingt, die irdischen Hüllen abzuschütteln, in denen er gefangen ist. Viele Wege führen zur Befreiung, doch die Mauer entlang dieser Wege ist stets dieselbe, die Strecke des Karma, wo der Weg zu unserer Befreiung bald kürzer, bald länger sein wird, je nachdem, wie wir unser Leben leben.