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Das ist die heilige Essenz des Hinduismus, und ein Hindu bin ich mein ganzes Leben lang gewesen. Wenn ich weiß, was ich darüber weiß, dann kenne ich auch meinen Platz in der Welt.

Aber genug davon! Der Teufel soll die Fundamentalisten und Literalisten holen! Ich muss an eine Legende denken, die über Krishna erzählt wird, zu der Zeit, als er ein Kuhhirte war. Abend für Abend lädt er die Milchmädchen ein, mit ihm im Wald zu tanzen. Sie kommen und sie tanzen. Es ist finstere Nacht, das Feuer in ihrer Mitte lodert und prasselt, der Rhythmus der Musik wird immer schneller - die Mädchen tanzen und tanzen und tanzen mit ihrem Herrn, der so vielfache Gestalt angenommen hat, dass jedes ihn zugleich im Arm hat. Doch will ein Mädchen ihn ganz für sich haben, und als sie glaubt, Krishna tanze mit ihr und nur ihr allein, verschwindet er noch im selben Moment. Denn bei Gott soll es keine Eifersucht geben.

Ich kenne eine Frau hier in Toronto, an der hänge ich sehr. Sie war meine Pflegemutter. Ich nenne sie Tante, und das hört sie gern. Sie kommt aus Quebec, und auch wenn sie jetzt schon seit über dreißig Jahren in Toronto lebt, spricht ihr Verstand Französisch, und sie versteht manche englischen Laute nicht. So ging es ihr, als sie zum ersten Mal von den Hare Krishnas hörte. Sie verstand »hairless Christians«, glatzköpfige Christen, und noch Jahre später nannte sie sie so. Ich habe den Irrtum aufgeklärt, aber im Grunde fand ich, dass sie gar nicht so Unrecht hatte; denn Hindus, in ihrer großen Liebe zu allen Geschöpfen, sind tatsächlich haarlose Christen, genau wie Muslims, die Gott in allen Dingen sehen, bärtige Hindus sind, und Christen in ihrer Gottesfürchtigkeit sind Muslims mit Hut.

Kapitel 17

Die ersten Eindrücke sind die tiefsten; was danach kommt, muss sich dem einfügen, was uns geprägt hat. Die Grundzüge meines Glaubens verdanke ich dem Hinduismus: die Landschaft, die Städte und Flüsse, die Wälder und Schlachtfelder, die heiligen Berge und die Tiefen des Meers, wo Götter, Heilige, Gauner und gewöhnliche Menschen einander begegnen und in dieser Begegnung bestimmen, wer wir sind und warum wir sind. Der Hinduismus war das Land, in dem ich zum ersten Mal von der unendlichen, kosmischen Macht der Liebe erfuhr. Es war Krishna, der zu mir sprach. Ich hörte ihn und folgte ihm nach. Und in seiner Weisheit und in der Vollkommenheit seiner Liebe führte Krishna mich zu einem Menschen.

Ich war vierzehn Jahre alt und ein zufriedener Hindu, als mir an einem Ferientag Jesus Christus begegnete.

Es kam nicht oft vor, dass Vater sich im Zoo ein paar Tage freinahm, aber einmal fuhren wir nach Munnar, gleich hinter der Grenze zu Kerala. Munnar ist ein kleiner Kurort in den Bergen, umgeben von den höchstgelegenen Teeplantagen der Welt. Es war Anfang Mai, der Monsun hatte noch nicht eingesetzt. In den Ebenen von Tamil Nadu war es drückend heiß. Eine kurvenreiche fünfstündige Autofahrt brachte uns von Madurai herauf. Die Kühle dort oben war wie Pfefferminze. Wir taten, was Touristen taten. Wir besuchten eine Teemanufaktur. Wir unternahmen eine Bootsfahrt auf dem See. Wir besichtigten einen Bauernhof. Wir gaben im Nationalpark den Bergziegen Salz zu lecken. (»Die können Sie auch bei uns im Zoo sehen«, sagte Vater zu ein paar Schweizer Touristen. »Kommen Sie doch nach Pondicherry.«) Ravi und ich zogen durch die umliegenden Teeplantagen. Alles nur Vorwände, um uns ein wenig Beschäftigung zu verschaffen. Denn wenn der späte Nachmittag kam, hatten es sich unsere Eltern im Teesalon des üppig ausgestatteten Hotels so bequem gemacht wie zwei Katzen in einem sonnigen Fenster. Mutter las, Vater plauderte mit den anderen Gästen.

In Munnar gibt es drei Hügel. Sie sind nicht zu vergleichen mit den größeren Hügeln - Bergen, könnte man schon sagen - rings um die Stadt, aber gleich am ersten Morgen fiel mir beim Frühstück auf, dass sie doch etwas Besonderes waren: Auf jedem davon stand ein Gotteshaus. Der Hügel rechts von der Hotelterrasse, jenseits des Flusses, trug hoch oben an seiner Flanke einen Hindutempel; auf dem mittleren, ein wenig weiter entfernt, stand eine Moschee; und die Erhebung zur Linken krönte eine christliche Kirche.

An unserem vierten Tag in Munnar, als der Nachmittag sich schon dem Ende zuneigte, stand ich auf dem Hügel zur Linken. Obwohl die Schule, die ich besuchte, nominell christlich war, war ich noch nie in einer Kirche gewesen und hätte mich auch jetzt nicht hineingetraut. Ich hatte nicht viel Ahnung von dieser Religion. Es gab kaum Götter, und sie galt als gewalttätig. Allerdings hatte sie gute Schulen. Ich umrundete die Kirche. Es war ein Gebäude, das nichts von dem verriet, was sich im Inneren verbergen mochte, mit dicken, schmucklosen hellblauen Mauern und hohen, schmalen Fenstern, durch die man nicht hineinsehen konnte. Eine Festung.

Ich kam ans Pfarrhaus. Die Tür stand offen. Ich versteckte mich hinter einer Ecke und sah mich um. Links von der Tür war ein kleines Holzschild mit der Aufschrift Gemeindepfarrer und Kaplan und zwei Schiebetäfelchen, die zeigten, ob die Pfarrer an- oder abwesend waren. Beide waren ANWESEND, informierte die Tafel mich in Goldbuchstaben. Einer war in seinem Büro beschäftigt, den Rücken zum Erkerfenster, der andere saß auf einer Bank an dem runden Tisch im Vorraum, wo offenbar Besucher empfangen wurden. Er saß mit dem Gesicht zu Tür und Fenstern und las in einem Buch - einer Bibel, nahm ich an. Er las ein paar Zeilen, dann blickte er auf, las ein paar Zeilen, blickte wieder auf. Er schien entspannt und doch ganz bei der Sache. Nach ein paar Minuten klappte er das Buch zu und legte es beiseite. Er faltete die Hände und saß einfach nur da, die Miene zufrieden, nicht erwartungsvoll, doch auch nicht bitter.

Die Wände des Vorraums waren weiß und schmucklos, die Tische und Bänke aus dunklem Holz, der Priester trug einen weißen Umhang - alles war ordentlich, einfach, schlicht. Ein Gefühl des Friedens erfüllte mich. Aber was mich mehr noch als die Stimmung dort faszinierte, was ich intuitivbegriff, das war, dass er einfach da war - geduldig, bereit -, für den Fall, dass jemand, egal wer es war, kam und mit ihm reden wollte. Ob jemand Trost in seinem Schmerz suchte, ob er seine Zweifel teilen, sein Gewissen erleichtern wollte - er würde ihm zuhören, und das voller Liebe. Das Lieben war sein Beruf, und er würde Trost und Hilfe geben, wo immer er konnte.

Das rührte mich. Was ich da sah, stahl sich in mein Herz, und es pochte schneller davon.

Er erhob sich. Ich dachte, vielleicht stellt er jetzt sein Schildchen um, aber das tat er nicht. Er ging nur weiter nach hinten ins Pfarrhaus, sonst nichts, und ließ die Tür zwischen Vorraum und nächstem Zimmer genauso offen wie die Tür nach draußen. Das fand ich bemerkenswert, wie beide Türen weit offen standen. Er und sein Kollege waren offensichtlich weiter zum Gespräch bereit.

Ich wanderte zurück zur Kirche und fasste Mut. Ich ging hinein. Mein Magen zog sich zusammen. Ich hatte Angst, dass ich auf einen Christen stoßen würde, der mich anbrüllte: »Was hast du hier zu suchen, Ungläubiger? Willst du dieses Gotteshaus entweihen? Hinaus mit dir, auf der Stelle!«