Выбрать главу

Aber es war niemand da. Und es gab auch wenig zu erforschen. Ich ging nach vorn und sah mir das Heiligtum an. Ein Bild hing dort. War das ihr Murti? Ein Menschenopfer offenbar. Ein wütender Gott, den man mit Blut beschwichtigen musste. Frauen, die benommen in den Himmel starrten, wo fette Babys mit winzigen Flügeln flogen. Ein Vogel, der anscheinend etwas Besonderes war. Welcher davon war der Gott? An der Seitenwand des Sanktums hing eine bemalte Holzstatue. Dieselbe Opfergestalt wie auf dem Bild, geschunden, das Blut in kräftigen Farben gemalt. Ich starrte seine Knie an. Sie waren ganz aufgeschlagen. Die hellrote Haut klaffte auf wie Blütenblätter, und die Kniescheiben waren rot wie Feuerwehrautos. Ich konnte mir nicht erklären, was diese Folterszene mit dem Pfarrer im Pfarrhaus zu tun hatte.

Am nächsten Tag um die gleiche Zeit kam ich wieder. Wieder sagte das Schild ANWESEND, und diesmal ging ich hinein.

Katholiken gelten als streng, sie urteilen unerbittlich. Aber was ich bei Pater Martin kennen lernte, war ganz anders. Er war die Freundlichkeit in Person. Er bot mir Tee und Kekse an, in einem Teegeschirr, das bei jeder Berührung klapperte; er behandelte mich wie einen Erwachsenen, und er erzählte mir eine Geschichte.

Und was für eine. Das Erste, was mich fesselte, war, dass sie so unglaublich war. Was? Die Menschen sündigen, und Gottes Sohn zahlt die Zeche dafür? Ich stellte mir vor, wie Vater zu mir sagte: »Piscine, heute hat sich ein Löwe in die Lamagrube geschlichen und zwei Lamas gerissen. Gestern musste ein Rehbock dran glauben. Vorige Woche haben zwei von ihnen ein Kamel aufgefressen. Die Woche davor waren es Marabus und Graureiher. Und wer weiß, wer wirklich unseren Goldhasen geholt hat. So geht das nicht weiter. Es muss etwas geschehen. Die Löwen können ihre Sünden nur büßen, wenn sie als Nächsten dich fressen.«

»Da hast du Recht, Vater, das ist ja nur logisch und vernünftig. Ich wasche mir noch eben die Hände.«

»Halleluja, mein Sohn.«

»Halleluja, Vater.«

Was für eine verrückte Geschichte. Was für eine verquere Psychologie.

Ich bat ihn, mir noch eine andere zu erzählen, eine, die ein wenig einleuchtender war. Mit Sicherheit gab es da doch noch mehr-jede Religion hat massenhaft Geschichten. Aber Pater Martin erklärte mir, dass die Geschichten, die vorher kämen - und davon gebe es tatsächlich noch viele -, für die Christen nur Vorgeschichte seien. Im Grunde gebe es in ihrer Religion nur diese eine, und die reiche ihnen für alle Zeit.

An jenem Abend im Hotel war ich sehr still.

Dass ein Gott sich Anfeindungen gefallen ließ, konnte ich verstehen. Auch die Hindugötter haben mit Dieben, Aufsässigen, Erpressern und Thronräubern zu tun. Was ist denn das Ramayana anderes als der Bericht über einen einzigen grässlichen Tag im Leben Ramas? Anfeindungen, gewiss. Pech, sicher. Verrat, jederzeit. Aber Erniedrigung? Tod? Ich kann mir nicht vorstellen, dass Krishna zugelassen hätte, dass man ihn nackt auszog, ihn geißelte, verspottete, durch die Straßen zerrte und zum Schluss auch noch kreuzigte - und wohlgemerkt Menschen, nichts weiter. Nie hatte ich gehört, dass ein Hindugott gestorben wäre. Das offenbarte Brahman starb nicht. Teufel und Ungeheuer, die schon, genau wie wir Menschen, zu Tausenden und Millionen sogar - dazu waren sie schließlich da. Auch die Materie war vergänglich. Aber das Göttliche sollte vom Makel des Todes frei sein. Alles andere war unmöglich. Die Weltseele kann nicht sterben, nicht einmal ein einzelner Teil von ihr. Das war nicht richtig von diesem christlichen Gott gewesen, dass Er Seinen Avatar sterben ließ. Und der Tod des Gottessohns muss ja wohl echt gewesen sein. Wenn uns Gott am Kreuz das Leiden nur vorspielt, dann wird aus der Passion Christi eine Christusfarce. Der Sohn muss wirklich gestorben sein. Und Pater Martin versicherte mir, so sei es gewesen. Aber wenn ein Gott einmal tot war, dann haftet der Tod an ihm, selbst wenn er aufersteht. Der Sohn wird den Geschmack des Todes nicht mehr los. Die ganze Dreieinigkeit - man konnte sich vorstellen, wie grässlich es roch zur Rechten Gottes. Nicht nur in der Phantasie. Warum tat Gott Sich so etwas an? Warum überließ Er den Tod nicht den Sterblichen? Warum machte Er das Schöne schmutzig, die Vollkommenheit unvollkommen?

Aus Liebe. Das war Pater Martins Antwort.

Und was sollte man von dem Sohn halten? Es gibt die Erzählung vom kleinen Krishna, den seine Freunde zu Unrecht anschuldigen, er habe Schmutz gegessen. Seine Pflegemutter Yashoda stellt sich vor ihn hin und droht mit dem Finger. »Du sollst keinen Schmutz essen, du böser Junge!«, tadelt sie ihn. »Aber das habe ich nicht«, antwortet der Herrscher des Himmels und der Erde, der sich zum Spaß als armseliges Menschenkind verkleidet hat. »So, so! Dann mach den Mund auf«, kommandiert Yashoda. Krishna tut wie ihm geheißen. Er öffnet den Mund. Yashoda bleibt die Luft weg. In Krishnas Mundhöhle sieht sie die gesamte unendliche Weite des Universums, alle Sterne und Planeten des Weltalls und den Raum zwischen ihnen, alle Länder und Meere der Erde und das Leben, das dort herrscht; sie sieht alle Tage der Vergangenheit und alle Tage der Zukunft, alle Gedanken und alle Gefühle, alles Mitleid und alle Hoffnung und die Dreigestalt der Materie; kein Kieselstein, keine Kerze, nicht die kleinste Kreatur fehlt, kein Dorf und keine Galaxie, und auch sich selbst sieht sie und jeden Krümel genau an seinem Ort. »Du kannst den Mund wieder schließen, Herr«, sagt sie ehrfürchtig.

Und da wäre die Geschichte von Vishnu in seiner Gestalt als Zwerg Vamana. Von Bali, dem König der Dämonen, fordert er nur so viel Land, wie er mit drei Schritten durchmessen kann. Bali lacht über den winzigen Bittsteller und seine noch winzigere Bitte. Er willigt ein. Sogleich nimmt Vishnu seine wahre kosmische Gestalt an. Mit einem Schritt ummisst er die ganze Erde, mit dem zweiten die Himmel, und mit dem dritten versetzt er Bali einen Tritt und befördert ihn in die Unterwelt.

Selbst Rama, der Menschlichste aller Avatare, war kein Feigling, auch wenn man ihn an seine Götternatur erinnern musste, als er in dem langen Kampf, in dem er seine Gemahlin Sita von Ravana, dem hinterhältigen Herrscher von Lanka, zurückeroberte, den Mut verlor. Er hätte sich von einem dürren Kreuz nicht aufhalten lassen. Und als es hart auf hart ging, wuchs er über seine armselige menschliche Gestalt hinaus, mit Waffen, die kein Mensch handhaben konnte, und einer Kraft, die kein Mensch hatte.

So soll ein Gott sein. Er soll Macht haben, er soll etwas vorstellen. Er soll die Bedrohten beschützen können und dem Bösen die Stirn bieten.

Dieser Sohn hingegen, der Hunger und Durst leidet, der müde und traurig wird, der kleinlaut ist, sich hänseln und herumschubsen lässt, der sich mit Anhängern umgibt, die von nichts eine Ahnung haben, unter Gegnern, die keine Achtung vor Ihm kennen - was ist denn das für ein Gott? Das ist ein Gott, der zu menschlich geworden ist. Sicher, es gibt Wunder, meist im medizinischen Bereich, ein paar für das hungernde Volk; wenn es hochkommt, beschwichtigt Er einen Sturm oder geht ein paar Schritte übers Wasser. Das ist Magie in jämmerlichem Maßstab, kaum besser als ein Kartentrick. Jeder Hindugott kann das hundertmal besser. Dieser Sohn, der ein Gott ist, hat die meiste Zeit Seine Gleichnisse erzählt. Er redet. Und er geht zu Fuß. Dieser Sohn, der ein Gott ist, ist ein Fußgängergott, und das in einem heißen Land - Er geht wie ein gewöhnlicher Mensch, so weit die Sandalen ihn tragen, und wenn er sich einmal ein Transportmittel gönnte, dann war es ein einfacher Esel. Dieser Sohn ist ein Gott, der drei Stunden lang starb, der stöhnte, seufzte, klagte. Und das soll ein Gott sein? Was hat er denn, woran man sich ein Beispiel nehmen kann?

Liebe, sagte Pater Martin.

Und nur ein einziges Mal war dieser Sohn erschienen, vor vielen Jahren und weit fort? Bei einem obskuren Stamm im fernen Westasien, in der hintersten Ecke eines längst verschwundenen Weltreichs? Und hängt schon am Kreuz, bevor Er noch ein einziges graues Haar auf dem Kopf hat? Hinterlässt keine Nachkommen, nur ein paar verstreute Legenden, sein Werk ein paar Zeichnungen im Sand? Moment mal. Das ist nicht einfach nur Brahma mit einem Minderwertigkeitskomplex. Das ist Brahma als Feigling. Brahma, der kleinlich und unfair ist. Das ist Brahma, der gar nicht wirklich sichtbar wird. Wenn Brahma nur einen einzigen Sohn hat, dann muss er doch wenigstens vielfältige Gestalt annehmen, so wie Krishna bei den Milchmädchen, oder etwa nicht? Was konnte denn einen derartigen Geiz Gottes rechtfertigen?