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Dann sagte der alte Herr: »Ich habe eine Geschichte, die Ihnen den Glauben an Gott geben wird.«

Ich ließ die Hand sinken, aber ich war auf der Hut. Klopfte da ein Zeuge Jehovas an meine Tür? »Spielt Ihre Geschichte vor zweitausend Jahren in einer entlegenen Ecke des römischen Reichs?«, fragte ich.

»Nein.«

Ein muslimischer Missionar womöglich? »Spielt sie im Arabien des siebten Jahrhunderts?«

»Aber nein. Sie fängt hier in Pondicherry an, vor ein paar Jahren, und endet, darf ich zu meiner Freude sagen, in dem Land, aus dem Sie kommen.«

»Und gibt mir den Glauben an Gott.«

»Ja.«

»Da hat sie sich aber viel vorgenommen.«

»Nicht so viel, dass es unmöglich wäre.«

Der Kellner kam. Ich zögerte einen Moment lang. Ich bestellte zwei Kaffee. Wir machten uns miteinander bekannt. Der alte Herr hieß Francis Adirubasamy. »Bitte«, sagte ich, »erzählen Sie mir Ihre Geschichte.«

»Aber Sie müssen gut aufpassen«, antwortete er.

»Das werde ich.« Ich holte Bleistift und Notizblock hervor.

»Verraten Sie mir«, fragte er, »waren Sie im Botanischen Garten?«

»Erst gestern.«

»Sind Ihnen die Schienen der Miniatureisenbahn aufgefallen?«

»Ja.«

»Sonntags fährt auch heute noch ein Zug, zur Unterhaltung für die Kinder. Aber früher fuhren die Bahnen tagein, tagaus, jede halbe Stunde. Haben Sie die Bahnhofsnamen bemerkt?«

»Einer heißt Roseville, gleich neben dem Rosengarten.«

»Stimmt. Und der andere?«

»Das weiß ich nicht mehr.«

»Das Schild haben sie abgenommen. Der andere Bahnhof hieß Zootown. Das waren die beiden Haltestellen für die Miniatureisenbahn: Roseville und Zootown. Früher gab es im Botanischen Garten von Pondicherry nämlich einen Zoo.«

Er erzählte weiter. Ich machte mir Notizen, die Grundzüge der Geschichte. »Sie müssen mit ihm reden«, sagte er und meinte den, der die Geschichte erlebt hatte. »Ich habe ihn sehr, sehr gut gekannt. Heute ist er ein erwachsener Mann. Fragen Sie ihn alles, was Sie wollen.«

Später in Toronto suchte ich unter neun Spalten von Patels im Telefonbuch den Richtigen heraus, den Helden der Geschichte. Mein Herz pochte, als ich die Nummer wählte. Die Stimme, die sich meldete, klang kanadisch, mit indischem Unterton, leicht und doch unmissverständlich, wie ein Hauch Weihrauch in der Luft. »Das ist schon so lange her«, sagte er. Aber mit einem Treffen war er einverstanden. Es wurden viele daraus. Er zeigte mir das Tagebuch, das er damals geführt hatte. Er zeigte mir die vergilbten Zeitungsausschnitte, Dokumente seiner kurzen, kuriosen Berühmtheit. Er erzählte mir, was er erlebt hatte. Und immer machte ich mir Notizen. Fast ein Jahr darauf erhielt ich nach beträchtlichen Anstrengungen ein Tonband und einen Bericht vom japanischen Verkehrsministerium. Und als ich jenem Tonband lauschte, da stimmte ich MrAdirubasamy zu. Es war tatsächlich eine Geschichte, die einem den Glauben an Gott geben konnte.

Ich fand es nahe liegend, dass MrPatel sie größtenteils in der Ichform erzählt — mit seiner eigenen Stimme, durch seine eigenen Augen gesehen. Alle Fehler oder Unstimmigkeiten gehen jedoch zu meinen Lasten.

Einigen Leuten sollte ich danken. Am meisten, das liegt auf der Hand, MrPatel — meine Dankbarkeit ist so unendlich wie der Pazifische Ozean. Ich hoffe, dass er nicht enttäuscht von der Art ist, wie ich seine Geschichte erzählt habe. MrAdirubasamy danke ich, dass er den Anstoß dazu gab. Dass ich sie vollenden konnte, habe ich drei Männern zu verdanken, deren Gewissenhaftigkeit uns allen ein Vorbild sein kann: MrKazuhiko Oda, derzeit an der japanischen Botschaft in Ottawa; MrHiroshi Watanabe von der Oika Shipping Company; und ganz besonders MrTomohiro Okamoto vom japanischen Verkehrsministerium, jetzt im Ruhestand. Ebenfalls zu Dank verpflichtet bin ich MrMoacyr Scliar, der dem Projekt Leben einhauchte. Und zuletzt möchte ich meinen tief empfundenen Dank jener großen Organisation aussprechen, dem Canada Council for the Arts, ohne dessen Stipendium dieses Buch, das nichts mit Portugal im Jahre 1939 zu tun hat, nie Gestalt angenommen hätte. Mitbürger, wenn wir unsere Künstler nicht unterstützen, dann opfern wir die Phantasie unseres Landes auf dem Altar der Alltäglichkeit, und am Ende werden wir an nichts mehr glauben können und keiner unserer Träume wird mehr etwas wert sein.

ERSTER TEIL Toronto und Pondicherry

Kapitel 1

Ich hatte so viel gelitten, ich war ein finsterer und trauriger Mensch geworden.

Wissenschaftliche Arbeit und der Trost der Religion brachten mich allmählich ins Leben zurück. Meinem Glauben, so abwegig er manch einem auch vorkommen mag, bin ich treu geblieben. Nach einem Jahr auf der High School ging ich an die Universität von Toronto und schrieb mich für einen Bachelor-Studiengang mit zwei Hauptfächern ein. Die beiden Fächer waren Religionswissenschaften und Zoologie. Im ersten widmete ich meinen Examensessay gewissen Aspekten der Kosmogonie Isaak Lurias, des großen Kabbalisten, der im 16. Jahrhundert in Safed tätig war. Als Abschlussarbeit in Zoologie schrieb ich eine Funktionsanalyse der Schilddrüse des Dreifingerfaultiers. Ich wählte das Faultier, weil es mit seinem Lebenswandel — ruhig, still, in sich gekehrt - meinem zerrütteten Ich ein wenig Trost bot.

Es gibt Zweifingerfaultiere und es gibt Dreifingerfaultiere, wobei das Unterscheidungsmerkmal die Vorderbeine sind, denn an den Hinterbeinen haben alle Faultiere drei Finger. Ich hatte das große Glück, dass ich einen Sommer lang das Dreifingerfaultier in den Dschungeln von Äquatorialbrasilien in situ studieren konnte. Es ist ein äußerst faszinierendes Geschöpf. Im Grunde ist die Trägheit sein einziger Wesenszug. Es schläft oder ruht im Durchschnitt zwanzig Stunden am Tag. Unser Team untersuchte die Schlafgewohnheiten von fünf wild lebenden Dreifingerfaultieren, indem wir ihnen am frühen Abend, wenn sie eingeschlafen waren, leuchtend rote, mit Wasser gefüllte Plastikschälchen auf die Köpfe stellten. Wir konnten sehen, dass sie am nächsten Morgen, wenn sich im Wasser schon die Insekten tummelten, noch immer an Ort und Stelle waren. Am regsten ist das Faultier bei Sonnenuntergang, wobei das Wort rege hier mit größtmöglicher Relativität zu verstehen ist. Das Tier bewegt sich in seiner charakteristischen hängenden Haltung mit einer Geschwindigkeit von etwa 400 Metern die Stunde den Ast eines Baumes entlang. Am Boden kriecht es, wenn es motiviert ist, mit einem Tempo von 250 Metern die Stunde zu seinem nächsten Baum, das heißt 440-mal langsamer als ein motivierter Gepard. Unmotiviert legt es vier bis fünf Meter die Stunde zurück.